Lerntransfer aus Sicht des Wissensmanagement

„10 % sind schon ernüchternd“

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt von der Technischen Universität Graz (TU Graz) über die Effizienz betrieblicher Bildungsmaßnahmen.

Wenn es nur so leicht ginge: Bücher werden über sensorische Helme direkt „ins Gehirn gekurbelt“. So stellte sich das Künstlerkollektiv Villemard im Jahre 1910 in ihren futuristischen Kartensets die Zukunft des künstlichen Lernens vor. Am Menschheitstraum, passiv und innerhalb von Sekunden neues Wissen aufzunehmen, wird indes weiter festgehalten. Nur werden hierfür in Zukunft sicher keine Druckerzeugnisse „durch den Wolf gedreht“…

Wie können Stakeholder betriebliche Bildung aktiv fördern? Wie kann Künstliche Intelligenz dabei helfen? Und steht Datenschutz im Widerspruch zu Learning Analytics? Die Mathematikerin und Informatikerin Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt stellt sich diesen und weiteren spannenden Fragen im Gespräch mit dem eLearning Journal und greift hierzu auf die Forschungserkenntnisse des universitätseigenen Business und Big Data Analytics-Instituts zurück: das Know-Center in Graz.

eLearning Journal: Hallo Frau Professor Lindstaedt. Wofür steht die TU Graz und was ist ihr Schwerpunkt in der Forschung und Lehre?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Die TU Graz ist eine technische Universität, die sich besonders der Zusammenarbeit mit Unternehmen verschrieben hat. Wir haben eine ausgezeichnete Informatikfakultät hier. Und wir arbeiten mit der gesamten Industrie hier im Umfeld. Und deswegen gibt es bei uns auch ein Institut, ein Forschungszentrum, das Know-Center. Es ist Österreichs Forschungszentrum für datengetriebenes Business und Big Data Analytics. Also, wir befassen uns mit Daten und wie man aus Daten Intelligenz machen kann. Mein spezieller Schwerpunkt ist, dass ich mich schon seit 25 Jahren damit beschäftige, wie wir Lernen am Arbeitsplatz, in der Arbeitssituation unterstützen können. Wie können wir den self directed learner unterstützen? Dass Arbeitssituationen als Lernsituationen wahrgenommen werden und er oder sie die Möglichkeit hat, dort an der Stelle wirklich neue Kompetenzen zu bekommen. Und in dem Umfeld mache ich jetzt schon seit sehr langer Zeit auch große EU-Projekte, die alle in diese Richtung laufen. Und habe die große Hoffnung, dass jetzt durch COVID ein starker Schub in diese Richtung geht, dass wir viele von diesen Ideen dann auch wirklich in die Praxis bekommen.

eLearning Journal: Ja, diese Hoffnung teile ich für unseren Dialog. Dass wir auch ein Stück weiter kommen. Wir als Fachverlag des eLearning Journals haben ja im DACH-Bereich 40.000 Akteure, die uns folgen. International sind es 100.000. Das heißt, es gibt auch große Unterschiede in den einzelnen Kulturkreisen, wie man mit diesem Thema umgeht. Wir haben jetzt in unserer Podcastreihe schon einige Experten gehört aus der Wissenschaft, die uns einen Orientierungsrahmen anbieten. Denn in der betrieblichen Bildung ist es für den Akteur, der in der Personal- oder Weiterbildungsabteilung zuständig ist, der Projektverantwortung hat – in großen Unternehmen gibt es bereits zu 20 % einen eLearning-Beauftragten – relativ mühsam, wissenschaftliche Erkenntnisse in seine tägliche Arbeit mit einzubeziehen. Deswegen mein erneuter Versuch heute: Können Sie uns Hoffnung machen, dass der Lerntransfer, für den wir uns alle einsetzen, für den die Kollegen mit Herzblut Weiterbildungen organisieren – dass dieser Lerntransfer überwiegend auch so zu erwarten ist? Haben Sie auch diese Wirkungsprognose alias „Ja, das passt schon“?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Lassen Sie mich vielleicht einen Schritt zurückgehen und erst noch mal kurz anschneiden, was Lerntransfer eigentlich ist. Lerntransfer ist ja nicht, dass ich mir irgendetwas durchgelesen habe und ich glaube, es verstanden zu haben. Lerntransfer ist vielmehr, wenn ich es wirklich in meiner Arbeit anwenden kann, wenn ich es wirklich in die Praxis bringe. Und wenn wir uns dort die Langzeitstudien anschauen – von denen es viele gibt -, die sich fragen, wie ineffizient berufliche Weiterbildung in der Vergangenheit war und auch immer noch ist: Da kommen wir auf Lerntransferquoten von um die 10 %, in ganz ausgenommenen Fällen ein bisschen höher. Und das ist dann schon ernüchternd, wenn man feststellt, dass nur ungefähr 10 % dessen, was man da gelernt hat, wirklich am Arbeitsplatz ankommen. Und das hat natürlich viele unterschiedliche Gründe. Einerseits ist es so, dass man herausgerissen ist, man ist in einem Seminarzentrum oder in einem anderen Bereich aus der Umgebung. Das heißt, man begreift die Dinge rein kognitiv in einem anderen Zusammenhang. Man hat auch in dem Moment gar nicht unbedingt die Motivation, jetzt unbedingt dieses Thema lernen zu müssen, sondern sieht es eher als eine umgreifende Information, die da jetzt halt getroffen wird. Aber dadurch fehlt auch entsprechend die Emotion, die notwendig ist, um einen Lerneffekt, eine Verhaltensänderung bei der Person umsetzen oder erreichen zu können. Deswegen arbeiten wir schon sehr lange daran, zu überlegen, wie wir Lernsituationen in der Arbeit identifizieren können und diejenigen informieren, dass diese Arbeitssituation als Lernmöglichkeit genutzt werden kann. Und wenn er oder sie dann sagt: Ja, ich bin bereit, jetzt das zu tun, in bin jetzt gerade nicht im Totalstress – dass man ihnen dann verschiedene Lerninhalte und Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Natürlich angepasst auf das, was er oder sie schon kann.

eLearning Journal: Gut, lassen Sie uns da näher ranzoomen! An dem Mitteleinsatz kann es ja gar nicht so sehr liegen. Wir wissen ja aus Studien des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, dass deutsche Unternehmen alleine im Jahr 33 Miliarden Euro in die Hand nehmen, um – gut gemeint – Weiterbildung für die Mitarbeiter zu organisieren. Was können die Unternehmen besser machen?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Also, ich glaube, wir müssen an zwei Stellen ansetzen. Wir haben einerseits die Situation, dass der Lernende selber viel stärker in den Driver Suite kommen muss. Also, dass er oder sie viel mehr derjenige ist, der auswählt, was er denn jetzt wie lernen möchte. Und dann auch gleich teilen muss, wie das konkret angewendet wird. Also nicht sozusagen: Ich nehme jetzt mal diesen Kurs, weil der ist ja nett. Sondern wirklich zu sagen: Ich nehme jetzt diese Möglichkeit an, um mich an der Stelle etwas weiterzubilden und werde dann auch zeigen, dass ich das tatsächlich in meiner Arbeit umsetzen kann. Das heißt, der Lernende muss so unterstützt werden, dass er sich hinsetzen kann, dass er sich selbst directed verhält, sprich: directed learning. Das heißt, dass man weiß, wann hat man ein Ziel erreicht, an welchen Stellen hat man vielleicht noch Nachfragen und so weiter. Und, was ganz wichtig ist, dass man auch in die Arbeit und das Lernen Reflexionssituationen einbaut. Also dass man dann sagt: Ok, ich habe diese Information erhalten, ich hatte jetzt einige Lernmöglichkeiten innerhalb meiner Arbeit und jetzt reflektiere ich darüber, was ich da jetzt eigentlich Neues gemacht habe. Habe ich da jetzt den nächsten Schritt getan oder nicht? Und was fehlt mir? Das ist der Lernende. Aber dann haben wir ja auch den Lehrenden, der sich ja jetzt in unserer digitalen Welt in einer ganz anderen Situation wiederfindet, als wir das früher hatten. Früher war es immer so, dass der oder sie dann der Wissensvermittler war, der das Ganze rüberbringt. Jetzt haben wir ganz viele andere Möglichkeiten. Von den ganzen Lernformen angefangen, kann man sich unheimlich viele Informationen zusammensuchen und daraus lernen. Aber der Lernende braucht ja Hilfe beim Pfad, das heißt der Wegfindung des Pfades durch dieses Gewühl an Informationen und der Lernmöglichkeiten. Und da wäre der Lehrer eben eher ein Moderator, ein Agent, ein Coach, der diese Person durch die ganzen Lernpfade durchleitet, immer wieder Feedback gibt und Unterstützung oder Encouragement zur Verfügung stellt.

eLearning Journal: Also wir haben auf der einen Seite eine Menge Mittel, die die Unternehmen in die Hand nehmen, auf der anderen Seite haben wir den Vorteil gegenüber manchen anderen Lernzielgruppen, dass ja das Gelernte schneller erprobt werden könnte und dann zu einer Kompetenz werden könnte. Allerdings haben in der betrieblichen Bildung immer noch sehr stark formale Weiterbildung. Weist das, was Sie gerade sagen, darauf hin, dass es eher informelle Lernprozesse sind, die zu unterstützen wären?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Ja, das ist auf jeden Fall wahr. Da gibt es sehr gute Arbeiten aus der Kognitiven Psychologie von Michael Roth zum Beispiel. Er hat gezeigt, dass genau diese Grenze zwischen den Prozessen – auf der einen Seite die reinen Arbeitsprozesse und auf der anderen Seite die reinen Lernprozesse – jetzt immer mehr aufgehoben wird und diese Dinge, die es dazwischen als Synergiepunkt, als Austauschmöglichkeit gibt, wirklich die entscheidenden Aktivitäten sind, die man am Arbeitsplatz unterstützen müsste, um diesen höheren Lerntransfer hinzubekommen. Da geht es um Dinge wie Fragen stellen, die richtigen Informationen finden, Reflektion, Fehler machen und dann gleich ein Feedback bekommen. Und auch ganz wichtig, aktiv andere anleiten und denen Feedback geben. Also, das sind solche Aktivitäten, die es heißt zu unterstützen und da kann man jetzt auch ins Thema KI gehen, wo man sich viele Möglichkeiten vorstellen kann, wie man mit intelligenten Systemen genau solche Arten von Unterstützung bieten kann.

eLearning Journal: Bevor wir zum Thema KI kommen, würde ich hier gerne ein bisschen verbleiben. Weil ich glaube, das ist genau das, was die Kollegen im operativen Geschäft gut als Rüstzeug gebrauchen können für ihr Stakeholdermanagement – die Zusammenhänge deutlich zu machen. Und wir haben jetzt das sehr verbreitete Bewusstsein, insbesondere in den großen Unternehmen, dass die Lernprozesse eigentlich viel effektiver arbeitsplatznah stattfinden. Da bestätigen Sie diese Unternehmen aus der Wissenschaft auch. Wenn ich jetzt halt arbeitsplatznäher schaue, dann ringen die Unternehmen darum, wie sie systematisch, durch digitalen Einsatz, die Lernbedarfe erfassen und steuern können, sodass sie den Lerner just in time arbeitsplatznah unterstützen. Aber Sie sprachen ja eine Schlüsselposition an: die des Lernbegleiters. In dem Zusammenhang sprechen Sie von kontextualisiertem Lernen. Ist das eine Methodik, die Sie den Kollegen als Begrifflichkeit mit auf den Weg geben können? Eine Deutung, wie man kontextualisiertes Lernen verstehen kann?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Also, das zentrale Konzept dabei ist, zu verstehen, in welcher Situation, in welchem Kontext befindet sich eine Person im Moment und dieser Kontext ist nicht nur dadurch definiert, wo sie sich befindet und welche Arbeitsschritte sie jetzt durchführt, sondern auch welche Backgroundinformationen, welche Skills derjenige schon hat, bis zu welchem Level und so weiter. Also das heißt, es umfasst das Umfeld als auch einen selber. Wichtig dabei ist auch, herauszufinden, welches Arbeitsziel verfolgt diese Person im Moment. Also ist das beispielsweise das erste Mal, dass derjenige ein Angebot schreibt oder ist es das erste Mal, dass er in einer Verhandlungsposition ist. Oder hat er das jetzt schon drei, vier, fünf mal gemacht und kann auf gewissen Dingen aufbauen. Diesen Kontext zu bestimmen, ist nicht leicht. Dazu braucht man Daten darüber, wie sich ein Mensch bei der Arbeit verhält. Da kommen wir natürlich in Richtung Datenschutz. Wir können daraus erkennen, in welchem Arbeitsschritt sich jemand befindet, ob derjenige sich unsicher ist bei der Ausführung von gewissen Arbeitsschritten. Wir können das dann vergleichen mit dem Skillprofil von dieser Person. Und dann können Vorschläge gemacht werden, so wie wir das kennen aus den Recommender-System von Amazon. Das halt geschaut wird: Ok, du hast schon diese und jene Skills erreicht und du willst aber jetzt dieses Ziel hier oben erreichen. Welchen Lernpfad könntest du nehmen, um dahin zu kommen? Und das kann einerseits digital über Recommender-Systeme und Adaptive Systeme laufen oder zusätzlich gekoppelt mit einem Lernbegleiter, der vielleicht schon gewisse Lernpfade vorbereitet hat. Der das jetzt vielleicht auch zuschneidet auf den jeweiligen Betrieb, damit all diese Dinge dann auch so zusammenpassen, wie sie zusammenpassen sollen. Um dann eben diesen Kontext zu bedienen. Weil wir an der Stelle, wo jemand wirklich die Aufgabe und Motivation hat, etwas zu machen, seine Aufmerksamkeit und seine oder ihre Emotionen am richtigen Platz haben. Und da haben wir eine Chance, wirklich eine Verhaltensänderung, was ja Lernen letztlich ist, zu bewirken.

eLearning Journal: Damit sind wir beim Thema Adaptive Lernsysteme. Das heißt, personifizierte Lernangebote zu machen und Sie plädieren dafür, dass es eine Reflektion gibt durch einen Lernbegleiter. Ob das jetzt ein Lernagent ist oder wie immer wir das nennen würden, also jemand, der die Situation des Lerners dabei auch in den Blick nehmen kann. Das heißt natürlich auch auf der anderen Seite, dass es eines Eingriffs in die Lernkultur bedarf. Da ist genau der Stellschraubenbedarf. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass diese Stellschrauben im Betrieb gesetzt werden können, ohne dass die obere Führung da die Richtung vorgibt?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Nein, das ist natürlich ganz wichtig. Denn das sind schon sehr grundlegende Änderungen in der betrieblichen Weiterbildung, die jetzt nicht einfach nur von der Abteilung selbst betrieben werden können, sondern ich glaube, es ist ein Umdenken, was Weiterbildung für und in den Unternehmen wirklich bedeutet. Und in welche Richtung es gehen soll. Und ich glaube, dass da der Vorstand selber oder der Geschäftsführer einfach gefordert ist, sich selber mit diesen Dingen auch auseinanderzusetzen. Und auch zu fragen: Was ist für uns eine Vision, wo wir alle mitgehen können? Und an welchen Stellen wollen wir das anders machen, als es vielleicht andere tun?

eLearning Journal: Glücklicherweise wird dieser Prozess ja auch beschleunigt, was das Bewusstsein in der oberen Führung angeht, wenn wir uns die Coronazeiten anschauen – gefühlt sind das ja drei oder vier Jahre digitale Transformation, die hier in zwei oder drei Monaten abgelaufen sind. Vielleicht gibt das ja auch neue Impulse für das Stakeholdermangament. Aber wenn wir jetzt identifiziert haben, dass der Zukunftsweg für die betriebliche Bildung konstruktiv wäre, mehr die informellen Lernprozesse in den Blick zu nehmen und dort Angebote passgenau im Sinne adaptiver Lernsysteme zu machen – dann haben wir gerade in den großen Unternehmen den Fall, dass KI die große Lösung für die Zukunft sein wird. Sie sind KI-Expertin: Würden Sie diese Hoffnung auch teilen, dass adaptive Lernsysteme künftig mit KI gesteuert werden können?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Ja, da gibt es ja genug Forschung zu, dass das so ist. Aber ich glaube, wir sind da von der wirklich operativen Situation noch ein ganzes Stück entfernt. Der Dreh- und Angelpunkt ist die Frage der Daten. Um ein adaptives Lernsystem bauen zu können, muss ich Daten über den Benutzer und über sein oder ihr Verhalten haben. Nur so kann ich beurteilen, in welcher Situation er sich befindet, nur so kann ich feststellen, welche Kompetenzen schon da sind oder nicht. Und nur so kann ich dann auch wirklich interaktiv mit dem Lernenden in einen Dialog treten. Ob das dann über Chatbots geschieht oder trotzdem wieder über Dokumente, das ist wieder dann der nächste Schritt, den man sich überlegen kann. Aber ohne das User Profil oder den Lernpfad des Einzelnen von uns und die Informationen dazu, werden wir nicht in der Lage sein, genau solche Technologien wirklich sinnvoll anbieten zu können. Dazu brauchen wir Daten. Solche Daten können verwendet werden, um einerseits festzustellen, welchen Arbeitsschritt man gerade macht und andererseits zu erkennen, welches Ziel man zu verfolgen scheint. Und welche Skills fehlen mir dazu noch? Und dann dem Lernenden den Hinweis geben: Schau mal, du bist jetzt in der Situation, du könntest jetzt, wenn du vielleicht 10 Minuten investierst, dort einen Kompetenzschritt weiter machen. Und wenn der dann sagt: Ja, das passt mir gerade in meinen Zeitabschnitt herein – dass man dann Informationen anbietet, die auch nicht unbedingt personalisiert sein müssen als Information selber, sondern die ja bereits für die spezielle Situation vorgeschlagen sind. Das heißt, ich nehme diese Information her oder schau mir ein Video an und werde dann aber sofort angeleitet, diese Dinge in dem Arbeitsschritt einzusetzen, den ich gerade vorhabe. Und wenn ich dann eine von diesen Lernepisoden während meiner Arbeit durchgeführt habe und hierdurch Trigger bekomme – wir nennen das Reflektionstrigger -, um noch mal darüber nachzudenken: Ok, wie hat jetzt das, was ich die letzten fünf Male gemacht habe, wirklich funktioniert? An welchen Stellen bin ich mir immer noch unsicher? Und wie kann ich dort vielleicht noch zusätzliche Information bekommen oder vielleicht mit einem Experten über genau dieses Defizit reden?

eLearning Journal: Ich habe den Eindruck, dass gerade mit dem Thema KI auch in der beruflichen und betrieblichen Bildung noch sehr mystifiziert umgegangen wird. Also, dass häufig gar keine kommunikative Validierung stattgefunden hat, ob wir da eigentlich über das Gleiche reden. Auf der anderen Seite sehe ich ein ganz großes Spannungsfeld, dass wir auf der einen Seite natürlich in einer komfortablen Situation sind gerade im DACH-Bereich, dass wir große Datenschutzrechte haben und dass natürlich eine Entrechtung stattfinden könnte, wenn wir in den pazifisch-asiatischen Raum schauen – da sehe ich Sachen, die ich lieber nicht gesehen haben möchte, wie mit Datenschutz umgegangen wird. Auf der anderen Seite ist es aber auch die Frage, die ich gerne an Sie als Expertin für Big Data Analytics stellen würde: Wir sprechen hier ja auch über Learning Analytics, gehen wir denn genug differenziert um mit dem Thema Daten? Würde denn mehr gehen, was wir in der betrieblichen Bildung einsetzen können, ohne Persönlichkeitsrechte zu verletzen?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Also, ich glaube, wir gehen extrem vorsichtig damit um. Und deswegen gibt es da auch noch sehr wenige Angebote. Weil es im Moment sehr schwer ist für die Entscheider festzustellen, ob jetzt wirklich die Persönlichkeitsrechte einer Person verletzt werden oder nicht. Die automatische Reaktion eines Rechtsanwalts ist dann immer auch zu sagen: Nein, das machen wir überhaupt nicht. Wir nehmen dann halt gar keine Daten, weil dann sind wir auf jeden Fall mal auf der sicheren Seite. Das stimmt natürlich. Aber ich glaube wir würden uns so wirklich eine Menge von Optionen und Potenzial entgehen lassen. Also, ich bin eine sehr starke Verfechterin von Privatsphäre. Ich halte es für absolut unmöglich, dass man solche Lernpfadinformationen über einzelne Personen zum Beispiel dem Management zur Verfügung stellen sollte. Aber wenn es darum geht, dass es nur mir und meinem Coach Hilfestellungen gibt, um mir zu sagen, in welche Richtung ich mich vielleicht weiterentwickeln kann, dann halte ich diese Anwendung für gerechtfertigt. Und ich glaube, wir brauchen eine Art von Zertifizierung oder eine Prüfung, in der man sagt: Ok, wir nehmen diese Daten zwar auf, aber wie verwenden wir sie denn wirklich? Also nicht nur, dass das Speichern der Daten schon das Böse ist. Also wenn ich ein Küchenmesser zuhause habe, bin ich deswegen noch nicht gleich ein Serienmörder. Ich will, wenn ich viele Daten habe, auch nicht automatisch jemanden jetzt die Privatsphäre zerstören. Sondern ich brauche die Daten, um genau diese Information zur Verfügung zu stellen und zum Beispiel Kontextualisierungen zu ermöglichen, wo ich sagen kann: Ich habe mich jetzt in den letzten vier Wochen 20 mal mit diesem Thema auseinandergesetzt, das ich lernen möchte, habe insgesamt ein oder anderthalb Stunden dafür gegeben und am Ende kam diese und jene Veränderung raus. Dann kann ich für mich selber reflektieren: Naja, anderthalb Stunden waren jetzt nicht sehr viel, vielleicht müsste ich das mit ein bisschen mehr Zeitaufwand machen, dann kann ich auch einen stärkeren Output haben. Oder ich sage mir: Die anderthalb Stunden waren richtig super eingesetzt, weil genau das wollte ich gerade erreichen. Also diese Möglichkeiten jedem Einzelnen zu geben und umgekehrt dem Lehrenden auch die Möglichkeit zu geben, einzelne Lernende mit weiterführenden Informationen zu unterstützen, mit Fragestellungen, mit allem möglichen anderen didaktischen Mitteln, um denjenigen weiter zu bringen.

eLearning Journal: Ich könnte noch stundenlang mit Ihnen weiter über dieses Thema reflektieren, ich glaube die nächsten drei Stunden würden sicher nicht langweilig werden. Aber eine letzte Frage würde ich noch gerne mit Ihnen erörtern: Was an KI funktioniert denn heute schon? Wo sehen Sie denn schon die Marktreife und Einsatzfähigkeit von KI in der beruflichen und betrieblichen Bildung?

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt: Also, was wir jetzt ja schon sehr stark sehen, ist, dass Spracherkennung sehr gut funktioniert, dass auch Sprache zu Text sehr gut funktioniert, dass man dort natürlich mit Suchmechanismen unterstützen kann, dass ich damit vielleicht besser in Videos Inhalte suchen kann, dass ich mir diese Lerninhalte heranholen kann, es gibt quasi Chatbots, die mich vielleicht unterstützen können. Aber ich glaube, der wirkliche Fokus, den wir setzen sollten, liegt auf Recommender-Systemen und adaptiven Lernsystemen, die es uns erlauben, Inhalte an die Person anzupassen, so gut es eben geht. Und in anderen Bereichen haben wir ja durchaus auch solche Systeme im Einsatz. Im Auto gibt es eine ganze Menge adaptiver Systeme, die sich an den Fahrer/die Fahrerin anpassen. Und Hinweise geben über Gefahren. Und ich glaube, solche Arten von Hinweissystemen, Vorschlagssystemen, sollten wir uns noch viel mehr anschauen in der beruflichen Bildung. Dass man dort eben zeigt, schau mal, hier hast du die Situation und hier hättest du diese und jene Möglichkeit, nun mach es doch, wenn du Zeit hast! Und dann eben immer auch dieses Feedback zu geben.

eLearning Journal: Schönes Schlussbild, das Sie uns geben. Ein hoffnungsvolles, konstruktives Bild. Danke fürs Gespräch, Frau Prof. Lindstaedt.

Redaktion: Jacob Sablotny


Profil:

Prof. Dr. Stefanie Lindstaedt

ist Professorin in der Informatikfakultät der Technischen Universität Graz. Hier ist sie den Sachgebieten Artificial Intelligence, Computer Supported Cooperative Networks, Informationssysteme und Software-Engineering zugeordnet. Die studierte Mathematikerin und Informatikerin ist ebenso am Research Center for Data-Driven Business & Big Data Analytics, dem Know-Center, tätig und forscht hier unter anderem an der Anwendung von KI und Big Data in der betrieblichen Bildung. Lindstaedt in ebenso in EU-weite Forschungsprojekte involviert, als auch veröffentlichte sie bereits über 160 Forschungsberichte in dem universitätsinternen Journal und Fachbüchern, zumeist in englischer Sprache.


Literatur:

Konrad Lang / Sarah Stryeck / David Bodruzic / Manfred Stepponat / Slave Trajanoski / Ursula Winkler / Stefanie Lindstaedt:
CyVerse Austria: A Local, Collaborative Cyberinfrastructure

Der in dem Journal „Mathematical and Computational Applications“ der TU Graz erschienene Fachartikel zum Thema kollaboratives Arbeiten stellt die Infrastruktur vor, anhand derer die drei großen Grazer Universitäten bei ihrer Forschung zusammenarbeiten. Eingehend auf den Mangel praktikabler Werkzeuge, die aktiv die Forschungsprozesse und den damit verbundenen Wissenstransfer ermöglichen, präsentieren die Autoren in dem 25-seitigen englischen Fachbeitrag die von der University of Arizona entwickelte, sogenannte Cyberinfrastruktur – CyVerse Austria. Ebenso wird auf die Möglichkeit eingegangen, das System künftig in die European Open Science Cloud zu implementieren.

Publikation: Journal „Mathematical and Computational Applications“
Erscheinungsdatum: 24.06.2020
Artikelnummer: 38


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