Personalisierte Kompetenzentwicklung

Technologie-Unterstützung, Menschen als Erfolgsfaktoren und neue Spannungsfelder

Abb. 1: Bildungsverantwortliche müssen viele verschiedene Zielgruppen mit begrenzten Ressourcen bedienen. (Quelle: Dr. Christoph Meier)

Die Herausforderungen: VUCA-Welt, dynamische Märkte, Digitalisierung

Die aktuellen Herausforderungen für Unternehmen und Organisationen können mit drei Schlagworten umrissen werden: VUCA-Welt (z.B. Covid-19), dynamisch sich verändernde Märkte und Rahmenbedingungen (z.B. Brexit) und fortschreitende Digitalisierung (z.B. Robotic Process Automation). Unternehmen und Organisationen sind demzufolge gefordert, agil zu sein, sich in rasch ändernden Märkten richtig zu positionieren, kundenzentriert zu agieren und effiziente Prozesse zu gewährleisten.

Daraus leiten sich zentrale Herausforderungen für Bildungsbereiche und Bildungsverantwortliche ab. Insbesondere müssen Mitarbeitende in verschiedensten Rollen und mit verschiedensten Profilen für neue Aufgaben und Abläufe befähigt werden. Dies wird dadurch erschwert, dass die Zielgruppen von L&D immer heterogener werden: Berufs- und Bildungsbiografien werden seit vielen Jahren «bunter» und dies gilt auch für ganze Belegschaften (durch Expansion in internationale Märkte ebenso wie durch Migrationsbewegungen).

Hinzu kommt, dass die personelle Ausstattung von Bildungsbereichen nicht mit dieser wachsenden Komplexität Schritt hält. So beispielsweise bei Hilti: In 2015 waren dort lediglich 16 Learning Professionals dafür verantwortlich, Bildungsangebote für 29‘000 Beschäftigte in 120 Ländern und 34 Sprachen bereitzustellen (vgl. Kara I., 2020).

Empowerment, Plattformen und Personalisierung

An vielen Stellen wird daher an veränderten Angebots-, Organisations- und Geschäftsmodellen für L&D gearbeitet. Zum Beispiel mit der Förderung verschiedenster Formen informellen (Peer-)Lernens (etwa WOL-Circles). Zum Beispiel mit Content-Strategien, die User-Generated-Content (UGC) in den Mittelpunkt stellen. Zum Beispiel mit dem Bewilligen von Zeit und Geldbudgets für selbstgesteuerte Lernaktivitäten (etwa «Learning Friday») und ganz allgemein mit dem Einräumen von mehr Verantwortung auf Seiten der Beschäftigten im Hinblick auf die eigene Qualifizierung und Employability.

Abb. 2: Bildschirmfotos eines Lernpfads (links) und eines Kurses (rechts). (Quelle: degreed.com (links), linkedin.com (rechts))

Ein weiterer Ansatz besteht darin, dass für die Beschäftigten grosse Bibliotheken mit digitalen Inhalten verfügbar gemacht (z.B. linkedin learning) und / oder Learning Experience Plattformen (LXP) eingeführt werden (z.B. degreed, edcast, valamis oder fuse universal). Diese Inhalte-Bibliotheken und Learning Experience Plattformen bieten enorme Potenziale. Sie bieten nicht nur einen «one stop shop» für eine ungeheure Menge an Lerninhalten. Sie ermöglichen darüber hinaus eine personalisierte, das heisst, eine an Zugehörigkeiten, Rollen, Interessen, Empfehlungen aus dem Netzwerk oder Lernhistorie orientierte Zusammenstellung relevanter Lerninhalte. Und die Relevanz von Inhalten ist ja bekanntlich ein wichtiger Treiber für Lernmotivation (vgl. das ARCS-Modell von Keller 1987).

Die Grenzen technischer Lösungen

Die Einführung dieser Bibliotheken und Plattformen ist in der Regel mit erheblichen Investitionen verbunden. Gleichzeitig sind sie aber auch nicht die ganze Lösung. Vielmehr braucht es entsprechende Rahmenbedingungen, damit deren Potenzial ausgeschöpft und wirklicher Mehrwert realisiert werden kann. Betrachtet man nämlich die Lernpfade und Kurse auf diesen Plattformen etwas genauer, dann wird deutlich, dass hier die Gefahr besteht, dass nur träges Wissen, aber keine Handlungskompetenz entwickelt wird.

Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Der Lernpfad „Be resilient and change ready“ auf der Plattform degreed.com; und der Kurs „Power BI essential training“ auf der Plattform linkedin learning. Eine Analyse dieser beiden Angebot zeigt, was diese bieten und was nicht:

Um Missverständnissen vorzubeugen: Diese beiden Angebote sind gut gemacht und beinhalten qualitativ hochwertige Elemente. Und die dahinter liegenden Plattformen bieten prinzipiell die Möglichkeit, diese Angebote genau den Beschäftigten anzuzeigen, für die diese relevant sind. Aber damit daraus bei den Nutzern echte Handlungsfähigkeit und für ihre Unternehmen / Organisationen ein Zuwachs an Leistungsfähigkeit resultiert, braucht es mehr.

Tabelle 1: Was die analysierten Lernpfade / Kurse bieten und was sie nicht bieten.

Erfolgsrelevante Rollen

Es braucht Kuratoren, die in der Lage sind, sich in die Situation von Nutzern / Lernenden hineinzuversetzen und gezielt Elemente einzubinden, die den Lernprozess auf Seiten der Nutzer unterstützen (durch Orientierung; durch Ermutigung; durch sichtbare erste Zwischenerfolge; etc.). Es braucht Lernkompetenz und Lerntechniken auf Seiten derjenigen, die mit den Inhalten arbeiten: persönliche Ziele setzen; geeignete Lernsituation schaffen; Wesentliches erkennen; Informationen verdichten; Gelerntes im eigenen Kontext anwenden; Erfahrungen reflektieren und die eigene Praxis weiter anpassen. Und es braucht Führungskräfte, die ihre Mitarbeitenden beim lebenslangen Lernen im Arbeitsfeld gezielt und wirksam unterstützen (z.B. durch Freiräume; durch Unterstützung bei der Zielformulierung oder der Umsetzung im Arbeitsfeld; etc.).

Es sind vor allem vier Rollen, die für den Erfolg von Technologie-unterstützten Initiativen zur personalisierten Kompetenzentwicklung besonders wichtig sind:

Abb. 3: Zentrale Rollen für den Erfolg von Initiativen zur Förderung von personalisierter Kompetenzentwicklung. (Quelle: Dr. Christoph Meier)

Personalisierung: Zielbezüge und Spannungsfelder

Personalisiertes Lernen und personalisierte Kompetenzentwicklung kann als Gegenpol zu klassischen, durch Lehrpersonen gesteuerten Lehrprozessen gesehen werden – auch wenn diese über Binnendifferenzierungen die mit Diversität und Heterogenität verbundenen Herausforderungen aufgreifen (vgl. Euler 2018). Beim differenzierenden LEHREN liegt die Kontrolle zu wesentlichen Aspekten des Lehr-Lernprozesses nach wie vor bei den Bildungsverantwortlichen (Konzeption, Mediengestaltung, Umsetzung). Ziele, Methoden und Lernorganisation werden weitgehend von den Bildungsverantwortlichen definiert. Diversität der Teilnehmenden (und ihrer spezifischen Voraussetzungen, Interessen, Anliegen) kann beispielsweise über verschiedene Optionen für unterschiedlich ausgerichtete Gruppenaufträge aufgefangen werden (z.B. differenzierende Aufträge für Teilnehmende aus verschiedenen Funktionsbereichen oder mit wenig / viel Erfahrung im Thema. Allerdings stehen – bei aller Differenzierung – curriculare, institutionelle oder professionelle Zielbezüge klar im Vordergrund und die Teilnehmenden sollen diese annehmen.

Am anderen Ende des Kontinuums findet sich personalisiertes Lernen. Hier definieren die Lernenden nicht nur Aspekte der Lernorganisation (z.B. Ort, Zeit) und der Lernmethoden (z.B. wechselseitige Feedbacks in einer Arbeitsgruppe). Darüber hinaus definieren sie auch die Ziele und die Inhalte. Also beispielsweise das Erlernen und Einüben von Sketchnoting als Arbeitstechnik an Stelle des Einübens der Protokoll-Erstellung mit Microsoft Teams und dem Zusatz Decisions. Aspekte der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsentwicklung treten stärker in den Vordergrund («Ich kann auf diese Weise schneller verständliche Protokolle erstellen»). Damit verbunden ist nicht nur ein hohes Motivationspotenzial («Meine Ziele») und ein hohes Potenzial für Selbstorganisation («Ich kümmere mich selbst darum»). Damit verbunden sind potenziell auch Spannungsfelder zu organisationalen Erfordernissen und zur Personalentwicklung («Wir verwenden für das Protokollieren Teams und Decisions und bieten hierzu Anwenderworkshops an»).

Abb. 4: Modi des Lernens, Zielbezüge und Spannungsfelder. (Quelle: Dr. Christoph Meier, in Anlehnung an Euler 2018)

Von der Differenzierung über Personalisierung zur Kultur- und Werteentwicklung

Das Ermöglichen und Fördern von personalisierten Lernaktivitäten und personalisierter Kompetenzentwicklung kann auf der einen Seite grosse Motivationspotenziale freisetzen. Wenn Mitarbeitende sich zu den von ihnen selbst als relevant wahrgenommenen Themen und Inhalten selbstreguliert weiterbilden können, dann ist zu erwarten, dass die Lernmotivation hoch ist. Wenn dann auch noch die entsprechenden Plattformen und Inhalte verfügbar sind und die Beschäftigten über die erforderlichen Lernkompetenzen und Lernstrategien verfügen, sind die Voraussetzungen für nachhaltigen Lernerfolg und die Entlastung von Bildungsverantwortlichen sehr gut.

Auf der anderen Seite entstehen aber auch neue Spannungsfelder. Über Empowerment und Selbstregulation können Ansprüche an Persönlichkeitsentwicklung stärker in den Vordergrund treten («meine Entwicklungsziele»). Und es stellt sich die Frage, über welche Mechanismen, Massnahmen und Angebote eine gute Passung mit den Anforderungen des Unternehmens bzw. der Organisation hergestellt werden kann. Hier ergeben sich dann wiederum neue Aufgaben und Herausforderungen für Bildungsverantwortliche und Personalentwickler*innen: Angesichts von grösseren Freiheitsgraden (Empowerment) braucht es andere einigende Bänder. Neben einem gemeinsamen Verständnis von Zielen und Strategien – heruntergebrochen auf verschiedenste Organisationsebenen – werden diesbezüglich Kultur- und Werteentwicklung eine wichtige Rolle spielen…


Literatur:

Euler, Dieter (2018): Personalisiertes Lernen an Hochschulen. Keynote Vortrag. Kurztagung „Personalisiertes Lernen an Hochschulen – Wie viel darf es sein?“. Pädagogische Hochschule Zürich, 25.04.2018. Online verfügbar unter https://phzh.ch/de/Weiterbildung/Hochschuldidaktik-und-entwicklung/events/kurztagung/.
Kara I. (2020): How Hilti is redefining the role of L&D in the connected world. Linkedin.com. https://www.linkedin.com/pulse/how-hilti-redefining-role-ld-connected-world-kara-ikaneng/
Keller, John M. (1987): Development and use of the ARCS model of instructional design. In: Journal of Instructional Development 10 (3), S. 2–10. DOI: 10.1007/BF02905780.


Der Autor:

Dr. Christoph Meier

ist Geschäftsführer von scil an der Universität St.Gallen. Er unterstützt Bildungsorganisationen bei der Bewältigung der digitalen Transformation, der Weiterentwicklung des Bildungsmanagements sowie der Kompetenzentwicklung der Beschäftigten. Er ist zudem als Fachcoach aktiv sowie als Fachreferent bzw. Lernbegleiter im Rahmen der Zertifikats- und Diplomprogramme der scil academy.

 

 


Kontakt:

Christoph Meier
swiss competence centre for innovations in learning

Universität St.Gallen

christoph.meier@unisg.ch
www.scil.ch