Die Zukunft der Beruflichkeit aus Sicht der Berufspädagogik

„Ich glaube nicht, dass wir auf Fachlichkeit verzichten können“

Prof. Dr. Rita Meyer von der Leibniz Universität Hannover berichtet über die Veränderungen der Beruflichkeit in Deutschland vor dem Hintergrund der Globalisierung und digitalen Transformation.

Was ist eigentlich das Besondere der Beruflichkeit für Unternehmen im deutschsprachigen Raum? Wie hat sich die Beruflichkeit in den letzten Jahren verändert und wie wird sie sich in Zukunft weiter verändern? Das eLearning Journal befragte Professor Dr. Rita Meyer vom Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung (ifbe) zu diesen spannenden Themen. So bekommt der Leser einen Überblick, wie sich eine neue Beruflichkeit auch auf die betriebliche Weiterbildung auswirkt.

eLearning Journal: Dr Meyer, wofür steht das ifbe und was sind Ihre Aufgaben, denen Sie sich täglich stellen?

Prof. Dr. Rita Meyer: Ich bin am ifbe Professorin für Berufspädagogik und unsere tägliche Aufgabe ist es natürlich, Forschung und Lehre zu betreiben. In der Lehre bilden wir Berufschullehrer aus und haben auch einen Masterstudiengang Bildungswissenschaften. Durch den bilden wir diejenigen aus, die hinterher in den Personalabteilungen von Unternehmen arbeiten. In der Forschung beschäftige ich mich besonders mit den Veränderungen von Arbeit und Beruf. Mit neuen Formen von Beruflichkeit, mit dem Zusammenwirken von Organisationsentwicklung und Kompetenzentwicklung. In diesem Zusammenhang haben wir gerade eine Studie in der chemischen Industrie abgeschlossen, in der wir geschaut haben, wie eigentlich die Fachkräfte die Entwicklung in der Digitalisierung und die Transformation bewerten. Das nur mal so als Ausschnitt.

eLearning Journal: Da sollten wir gleich noch einmal darauf zurückkommen. Vielleicht jetzt noch einmal ein Satz zu der Leibniz Universität! Was sollten wir uns merken über die Leibniz Universität in Hannover?

Prof. Dr. Rita Meyer: Die Leibniz Universität ist eine sehr schöne und große Universität mit fast 30.000 Studierenden. Wir sind immer auf dem Weg, eine Exzellenzuniversität zu werden, was uns dieses Mal nicht geglückt ist, aber wir geben nicht auf.

eLearning Journal: Gut, da werden wir weiter einen Blick darauf werfen, wann euch das dann gelungen sein wird. Gehen wir jetzt noch einmal auf deinem persönlichen Wirkungskreis ein. Was sind deine Schwerpunkte in der Lehre und in der Forschung?

Prof. Dr. Rita Meyer: Da bin ich eben ja schon ein wenig drauf eingegangen. Also, in der Lehre beschäftigen wir uns mit Fragen wie: Was macht das duale System aus? Wie wirkt das zusammen? Welche Problemlagen gibt es dort? Dann geht es immer um Fragen rund um Lerntheorien, also wie lernen Menschen, wie Erwachsene und insbesondere wie wird in der Berufsbildung gelernt? Der letzte Punkt ist noch einmal ein ganz besonderes Feld: die Verknüpfung von Arbeit und Lernen, das Lernen in der Arbeit. Wie kann berufliche Handlungskompetenz hergestellt werden? Dann geht es auch um Fragen rund um die Professionalisierung des Personals. Dabei berücksichtigen wir natürlich auch immer aktuelle Entwicklungen und Trends, die wir unseren Studenten vermitteln und erforschen lassen. Dabei bezieht sich das alles sowohl auf formalisierte als auch auf nichtformalisierte Formen der beruflichen Bildung. Also auch informelles Lernen spielt da eine Rolle und da agieren wir in einem sehr breiten Themenfeld.

eLearning Journal: Noch eine Frage in diesem Zusammenhang, denn Ich habe euch ja schon besucht im Institut und die vielen jungen Menschen gesehen im Bereich Berufspädagogik, die da sehr motiviert auf die Arbeitswelt zusteuern. Wo wollen und werden diese Kollegen denn später einmal tätig werden als Berufspädagogen?

Prof. Dr. Rita Meyer: Also tatsächlich kommen viele mit der Idee, dass sie später mal in einem großen Unternehmen landen und natürlich würden die am liebsten alle bei VW arbeiten. In der Realität sieht das aber so aus, dass sie natürlich bei uns erst einmal ein Gespür dafür bekommen, wo eigentlich berufliche Bildung überhaupt ein Thema ist und wo ihre Expertise gebraucht wird. Hinterher landen sie tatsächlich häufig in Unternehmen in Personalabteilungen, aber auch bei gewerblichen oder kirchlichen Bildungsträgern. Und manche Absolventen landen natürlich auch in Verbänden oder Gewerkschaften. Manche machen sich auch selbstständig oder vertiefen bestimmte Aspekte noch in Zusatzausbildungen. Das ist also ein sehr vielfältiges Gebiet.

eLearning Journal: Lass uns doch vielleicht einmal da ansetzen, dass wir uns mal ein gemeinsames Bild davon machen, was eigentlich im DACH-Bereich, also in Schweiz, Österreich und Deutschland gegenüber anderen Regionen, diese strukturierte Beruflichkeit ausmacht?

Prof. Dr. Rita Meyer: Also, wir reden ja immer von Berufen und meinen damit dann meistens den Ausbildungsberuf oder den Erwerbsberuf, was ja gar nicht identisch sein muss. Ich kann ja hinterher in einem ganz anderen Erwerbsberuf arbeiten als in dem ich ausgebildet wurde. Wir reden allerdings auch immer mehr von Jobs, was sich auf die Ausübung reiner Arbeit bezieht und ist dann gar nicht mehr beruflich organisiert. Und darum versuche ich immer noch einmal deutlich zu machen, was das Besondere daran ist, dass wir in Deutschland eine, wir nennen das berufsförmige Organisation von Arbeit haben. Dazu gehört natürlich erst einmal, dass wir Qualifikationsstandards entwickelt haben. Es gibt ungefähr 350 Ausbildungsordnungen, aber eben auch 150 Weiterbildungsordnungen. Also haben wir auch im Bereich der Weiterbildung diese Qualifikationsstandards. Das bedeutet eben auch, dass wir Qualifizierungsgänge und auch Handlungskompetenzen zertifizieren. Diese Zertifikate sind ja dann auch ein Muster zum Tausch von Arbeitskraft geworden. Also wenn jemand eine Ausbildung zum Industriemechaniker absolviert hat, dann weiß das Unternehmen, was er oder sie kann und die Erwartungshaltung ist klar. Ganz besonders ist aber auch noch einmal das Zustandekommen der Berufe. Das ist wirklich etwas, wo die anderen Länder fassungslos drauf gucken und fragen, „Was – bei euch sind Gewerkschaften daran beteiligt, dass Berufe entstehen?“. Wir haben nämlich das Prinzip der Partizipation und der Kooperation, das heißt alle Berufe werden von den vier Bänken gemacht, also Arbeitgebervertreter, Arbeitnehmervertreter, Bund und Länder. So durchläuft jeder Beruf am Bundesinstitut für Berufsbildung ein Verfahren, das man Neuordnungsverfahren nennt. Das heißt, es gibt ein ganz hohes Commitment für diese Berufe. Diese Ordnungsverfahren haben früher sehr lange gedauert, die haben sich beispielsweise in der Neuordnung der Metall- und Elektroindustrie 12 Jahre lang gestritten, wie sie es denn nun machen wollen. Heute geht das sehr schnell und innerhalb von einem Jahr wird ein Beruf geordnet. Wichtig ist eben auch, dass der Staat zum Beispiel kontrolliert, was da abläuft. Allerdings macht der das nicht selbst, sondern haben die Kontrolle der Berufsausbildung in die Hand der Kammern gelegt. Dass es diese Strukturen gibt, ist nicht selbstverständlich und sind bei uns historisch entstanden. Die Wurzeln liegen tatsächlich ganz weit zurück im Mittelalter, im Entstehen der Zünfte. Und zum Beispiel ein Land wie Amerika, schickt tatsächlich immer wieder Leute und sagt, das wollen wir auch.

Wollen wir auch: Das garantiert uns die Wettbewerbsfähigkeit. Aber leider ist es so einfach nicht, weil es aus einer ganz großen kulturellen Dimension herausgewachsen ist. Und das alles bildet sich dann auch darin ab, dass wir eine kollektive Absicherung haben, auch von Einkommen. Also wenn jemand eine Berufsausbildung hat, dann hat er auch eine bestimmte Einkommenserwartung worauf z.B. die Tarifverträge aufgebaut sind. Aber auch Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen sind bei uns immer sozialpartnerschaftlich geregelt. Und das alles hängt am Berufsprinzip. Allerdings ist das aber nur die bildungspolitische Dimension und ich möchte jetzt noch einmal kurz etwas zu den anderen beiden Dimensionen sagen, weil sich das nämlich auch auf die didaktischen Perspektive auswirkt. Der beruflichen Organisation von Arbeit liegt eben auch ein didaktisches Konzept zugrunde, da haben wir eine besondere Pädagogik für die Ausbildung in Berufsschulen. Die folgt dem Prinzip der Exemplarität und ist ein ganz anderes Prinzip als wir das an allgemeinbildenden Schulen haben. So stehen immer die Kompetenzorientierung sowie die Erfahrungs- und Handlungsorientierung im Vordergrund, was schon etwas sehr besonders ist. Und dann kommt noch eine soziale Dimension dazu, die sich daraus ergibt, dass wir nämlich durch diese Art der Organisation in Praxisgemeinschaften lernen und in den Berufsgruppen kollektive Identitäten ausbilden. So grenzen sich die Berufsgruppen auch voneinander ab. Also, man merkt schon, das hat ganz vielfältige Dimensionen, die da angeschaut werden müssen. Manche Dimensionen bleiben stabil und manche verändern sich stark.

eLearning Journal: Unser ganzes System der Beruflichkeit ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten trotzdem sehr stark unter Druck geraten. Ein Treiber ist die Globalisierung, ein weiterer Treiber ist die Digitalisierung. Aber auch eine Abstimmung mit den Füßen und auch das Verhalten der Unternehmen spielt dabei eine Rolle. Das Bundesinstitut für Berufsbildung muss natürlich auch damit umgehen, dass die nachwachsenden künftigen Arbeitnehmer mehr die akademischen Wege suchen, das duale Ausbildungssystem auch zunehmend nicht mehr so stark nachgefragt ist. Wie siehst Du denn die Eckpfeiler für die Zukunft der Beruflichkeit bei uns im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Deutschland?

Prof. Dr. Rita Meyer: Das ist tatsächlich auch eine Frage der Bereitschaft der Akteure, die ich da vorhin genannt habe, ob sie dieses System noch mittragen. Also bisher haben wir im Vergleich zu anderen Ländern eben auch eine relativ hohe Ausbildungsbereitschaft der Betriebe. Zum Teil müssen diese das auch machen. Also, wenn ein Bäcker sein Handwerk nicht ausbildet, dann kann er seine Brötchen nur noch aus dem Ausland beziehen und schiebt sie noch in die Öfen. Das hängt auch ein bisschen damit zusammen, wie sich die Arbeit insgesamt verändern wird. Meiner Meinung nach haben wir durch das regelmäßige Neuordnen, Wegfallen und Hinzukommen unserer Ausbildungsberufe eine stabile Basis. Gleichwohl stellen wir aber natürlich fest, dass ganz viele neue Tätigkeitbereiche entstehen, die sich dieser berufsförmigen Organisation von Arbeit entziehen. Also wo möglicherweise keiner ein Interesse daran hat oder wo die Qualifikationen zu gering sind.

eLearning Journal: Wenn wir jetzt vor diesem Hintergrund, einen näheren Blick auf die betriebliche Bildung legen, dann stellen wir ja fest, dass über den deutschsprachigen Raum hinaus Weiterbildung, auch informelle Weiterbildung, schon frühzeitig ausgeübt wird und viel mehr der Ansatz verfolgt wird, Kompetenzentwicklung just in time zu organisieren. Im deutschsprachigen Raum stellen wir fest, dass die Unternehmen sich da noch recht schwer tun sich darauf einzustellen. Was kommt da eigentlich auf uns zu in der Weiterbildung? Was kannst du für die betriebliche Bildung erkennen, was die nächsten Milestones in den nächsten Jahren sind? Worauf müssen sich die Unternehmen einstellen?

Prof. Dr. Rita Meyer: Um die Frage nach der Zukunft zu beantworten, bräuchte ich auch eine Glaskugel, das ist ja das Problem. Also wir kennen die Qualifikationsanforderungen der Zukunft nicht und da nützen auch diese ganzen Delphi-Umfragen nicht. Vielleicht hat der ein oder andere das schon einmal mitgemacht, wo man einschätzen soll, welche Qualifikationen in 5, 10 oder 25 Jahren eine Rolle spielen. Das halte ich wirklich für Glaskugelvorhersage. Wir müssen es uns branchenspezifisch angucken und das kann jede Branche natürlich aus den Entwicklungen der Vergangenheit und dem, was jetzt passiert, sicherlich fortschreiben. Das Problem ist, dass wir zum Beispiel immer so ein bisschen suggeriert bekommen, wir könnten auf Fachlichkeit verzichten. Dass es auf überfachliche Kompetenzen ankommt und jetzt auch die digitalen Kompetenzen, die so wichtig werden. Ich glaube nicht, dass wir auf Fachlichkeit verzichten können. Das geht im Handwerk schon gar nicht und auch nicht im Industriesektor. Unsere Untersuchungen in der chemischen Industrie haben ergeben, dass die Fachlichkeit bestehen bleibt, auch wenn viele Prozesse durch Maschinen gesteuert werden. Denn die Maschinen tut nur das, was man ihr vorhergesagt hat, wie sie also programmiert wurden und das wird überwacht. Also, wir haben da noch keinen Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der großen Breite und der Mensch bleib immer noch in der Verantwortung. Und dazu braucht er Fachwissen und auch Erfahrung, was ganz wichtig ist. Wir nennen das Arbeitsprozesswissen und Berufsabhängigkeit. So sind die eben bei einem Koch anders als bei einem Prozessleitelektroniker oder bei einem Kaufmann für eCommerce.

eLearning Journal: Wenn wir uns die berufsbezogene und betriebliche Weiterbildungslandschaft in Deutschland angucken, dann sagt das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, dass die Unternehmen in Deutschland in ihrer Gesamtheit 33 Milliarden Euro in die Hand nehmen, um betriebliche Weiterbildung zu organisieren. Reicht das für die Zukunft? Ist das eine Hausnummer, von der du sagst, ja so können wir systemstabilisierend vorangehen und die neuen Herausforderungen schultern?

Prof. Dr. Rita Meyer: Es gibt ja unterschiedliche Untersuchungen aus unterschiedlichen Instituten. Das Institut der deutschen Wirtschaft legt natürlich immer Zahlen vor, in denen die Unternehmen eine sehr hohe Weiterbildungsbereitschaft haben. Aber das Problem der Weiterbildungsstatistik ist, was erfassen wir? Wie fragen wir nach? Die meisten Lernprozesse in Unternehmen finden tatsächlich informell statt und ein ganz großer Teil dieser formalen Qualifizierung in Unternehmen sind tatsächlich Maßnahmen, die die Unternehmen durchführen müssen. Also im Bereich Gefahren, Arbeitssicherheit, Gefährdungsschutz und so weiter. Also, diese Zahlen sagen meiner Meinung nach nicht so viel aus. Die Frage ist ja eher, wie sorgt man tatsächlich dafür, dass formelle, aber vor allem auch informelle Weiterbildungsprozesse stattfinden. Also, wie kann ich Lernen in der Arbeit flankieren? Wie kann ich da Konzepte der Beratung und Begleitung initiieren und das auch auf Dauer stellen? Die großen Herausforderungen in den Betrieben, zumindest jetzt in den Traditionsbranchen, liegen zum Beispiel darin, dass sie eine unglaubliche Altersheterogenität haben. Ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlassen Unternehmen und mit ihnen geht ein enormes Erfahrungswissen. Die jungen Leute, die nachkommen, sind zwar durch die digitalen Berufsausbildungen völlig auf der Höhe, aber die haben natürlich kein Erfahrungswissen mehr. Und wie kann man das weitergeben? Wie kann man das organisieren? Das ist eine ganz große Herausforderung der Zukunft.

eLearning Journal: Ich würde gerne noch einmal bei der berufspolitischen Ordnungsarbeit stehen bleiben. Wir haben ja seit August letzten Jahres eine „Nationale Weiterbildungsstrategie“. Die skizziert sehr viele Handlungsfelder in der Weiterbildung und es gibt ja auch Akteure wie den Bildungswissenschaftler Professor Dehnbostel, der ja sagt, wir befinden uns schon lange in einer Weiterbildungsgesellschaft, aber es fehlen Standardisierungen. Wie weit siehst du denn, dass wir von der Politik begleitet, in der berufspolitischen Ordnungsarbeit mit dieser „Nationalen Weiterbildungsstrategie“ jetzt einen geeigneten Rahmen bekommen werden, der Standardisierung erlaubt?

Prof. Dr. Rita Meyer: Wenn man sich die Parteienlandschaft und die Parteiprogramme anguckt, dann steht überall drin, wie wichtig die duale Ausbildung ist. Wenn wir jetzt aber nach Weiterbildung suchen, dann ist das nicht mehr so klar und ist oft auch Streitthema. Die Gewerkschaften fordern schon seit vielen Jahren die Einführung eines Weiterbildungsgesetzes, oder zumindest die Aufnahme unter das Dach des Berufsbildungsgesetzes. Denn das Berufsbildungsgesetz bezieht sich im Moment nur auf die Berufserstausbildung. Die akademische Ausbildung ist da ausgenommen, denn es bezieht sich nicht auf duale Studiengänge. Auf der anderen Seite sagen die Arbeitgeber „Nene, wir haben schon genug geredet und bei der betrieblichen Bildung da reguliert ihr uns gar nicht.“ Das sind die Interessenlagen, die wir da vorfinden und es entsteht die Frage, wer reguliert, Markt oder Staat? Im Moment ist die Weiterbildung sehr stark dem Markt überlassen und der Staat ist im Hintergrund. Ich glaube, dass das auch zu großen Qualitätsverlusten führt, weil nicht alle Betriebe können das so gut. Es gibt ein paar Leuchttürme, die wirklich gut mit Bildungsträgern zusammenarbeiten und ihre Bildungsabteilungen ausgegliedert haben und gut aufgestellt sind. Aber für den ganzen großen Bereich KMU, da haben wir ja eigentlich gar keine Konzepte und wenig Unterstützung. Da gibt es immer mal wieder Fördermittel vom BMBF und auch vom Arbeitsministerium, aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Also ich würde auch sagen, dass wir mehr Standardisierung brauchen und müssen aber auch die Interessenlagen jeweils berücksichtigen. Aber andererseits hat der Staat im Bereich der Weiterbildung schon das ein oder andere reguliert. Er hat zum Beispiel Fortbildungs- und Weiterbildungsberufe für das Personal in der Berufsbildung geschaffen und das ist der geprüfte Aus- und Weiterbildungspädagoge und der geprüfte Berufspädagoge. Da ist der Staat tätig geworden und das ist ja eigentlich eine tolle Idee, diejenigen zu professionalisieren und diese Weiterbildung zu standardisieren, die dann ja als Multiplikatoren funktionieren und dann ihrerseits für die Qualität von Weiterbildung sorgen. Diese Berufe sind aber nur ganz gering gefragt. Also von 2017 bis 2019 haben gerade mal 234 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen Abschluss gemacht und das ist natürlich nichts. Ja wie kommt das? Ich glaube, es gibt einfach viel zu wenig Wissen darüber, dass es eigene Methoden, Techniken, Theorien und Konzepte gibt, mit denen die Akteure in den Unternehmen ihre Arbeit sehr professionell ausführen könnten.

eLearning Journal: Für die Akteure in den Unternehmen, die zuständig für die betriebliche Bildung sind, ist ein Epizentrum immer die Personalabteilung. Ein weiteres Epizentrum ist die Weiterbildungsabteilung. Je größer die Unternehmen, desto strukturierter sind diese Abteilungen, je kleiner sie sind, desto schwieriger ist auch der Zugang zu der digitalen Transformation der betrieblichen Bildung. Wenn wir uns jetzt einmal in die weiterbildende Fachkraft reinversetzen, dann treffen wir auf einen sehr unregulierten Markt. Also handelt es sich um einen fast autistischen Trial-and-Error-Prozess der Akteure, um die Aus- und Weiterbildung im Unternehmen zu organisieren. Du hast eingangs auch schon davon gesprochen, dass zunehmend Lernen im Prozess der Arbeit gesucht und gebraucht wird. Was kannst du uns denn da anbieten, wie man sich dazu orientieren könnte?

Prof. Dr. Rita Meyer: Es geht ja darum, eine Passung zu erzeugen. Das Interesse der Unternehmen ist ja nicht, die Leute so gut weiterzubilden, dass die hinterher ihre Kompetenzen auf einem Arbeitsmarkt verwerten, sondern die Unternehmen haben ja das Interesse, dass diese Kompetenzen auch innerbetrieblich verwertet werden können. Das ist ja noch einmal ein riesiger Unterschied. Gleichwohl besteht aber die Möglichkeit, dass jemand der gut ausgebildet und weitergebildet ist, auch seine Kompetenzen dann wieder am Markt anbietet. Daran ist übrigens das 2000 eingeführte IT-Weiterbildungssystem gescheitert, da die Unternehmen gesagt haben, wir bilden doch hier nicht total aufwendig unsere Mitarbeiter aus, dass die hinterher sich mit dieser Qualifikation woanders bewerben können. Also, es ist sensibel, es geht um die Passung zwischen der Organisation und den Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wie kann das jetzt erzeugt werden? Da geht es ja nicht nur um Fachqualifikationen, sondern die Prozesse in den Unternehmen müssen auch transparent sein. Die müssen ja auch wissen, was in vor- und nachgelagerten Arbeitsbereichen passiert. Und es geht aber auch darum, dass eine ganz hohe Identifikation mit dem Unternehmen oder auch Produkt geschaffen werden muss, wir nennen das mentale Mitgliedschaft. Und da gibt es ganz unterschiedliche Strategien, wie die Unternehmen das machen. Also im Moment ist es sehr verbreitet, auf den Wohlfühlfaktor zu setzen. Es boomen momentan Feelgoodmanager, die durch Yogakursen und schönen Pausenangeboten und Massagen, eine Möglichkeit darstellen, die mentale Mitgliedschaft zu stärken. Man könnte das ja sicherlich auch sehr wohl an der Fachlichkeit aufhängen und sagen, in dem Unternehmen lernen die Mitarbeitenden sowieso. Da findet permanent Anpassungsleistung individuell statt und man lernt auch voneinander in Praxisgemeinschaften und im Kollektiv. Diese informellen Lernprozesse, die laufen sowieso ab. Und jetzt ist die Frage, wie kann ich dies so organisieren, dass sie noch viel wirkungsvoller sind? Und dazu muss man tatsächlich im eigenen Unternehmen wissen, was wichtig ist. Dazu bilden wir unter anderem unsere Bildungswissenschaftler auch aus, dass die in der Lage sind, überhaupt erst mal eine Bestandsaufnahme zu machen, wo wird denn in meinem Unternehmen gelernt? Wo sind Multiplikatoren? Wer hat welche Kompetenzen? Wie werden die Informationen weitergegeben? Und wie wird auf Erfahrungswissen zugegriffen? In diesem Zusammenhang will ich Peter Dehnbostel zitieren: „unter jeder Arbeitsinfrastruktur liegt eine Lerninfrastruktur“ und die ist mehr oder weniger pädagogisch organisiert. Aus unserer Perspektive muss diese stärker organisiert werden und da kann man sich natürlich auch Unterstützung holen. Was wir hier gerade machen, ist ja auch schon eine Art Weiterbildung, eine Form des nicht informellen, sondern schon fast formalisierten Lernens. Man kann das schon gar nicht einordnen, da sieht man wieder, wie schwierig das ist. Da spielen natürlich dann Lernprozessbegleiter eine Rolle, die erst mal Kenntnis davon haben, wie kann man Lernen überhaupt organisieren? Wie bilden sich Kompetenzen aus? Da geht es ja eben nicht nur um Fachkompetenz, sondern auch um Sozialkompetenz, Humankompetenz und Methodenkompetenz. Das Erste wäre, dass die Akteure in den Unternehmen Kenntnis darüber haben, dass viel passiert, dass wir aber auch Konzepte haben, um es zu organisieren.

eLearning Journal: Eine Formel zum informellen Lernen hat sich in der betrieblichen Bildung in den Personalabteilungen in den letzten Jahren etablier. 70:20:10 von Charles Jennings, der eben sagt, dass 70 % der betrieblichen Bildung eigentlich unorganisiert als informelles Lernen mit Learning by doing stattfindet, 20 % im Austausch mit den Kollegen, das was du ja auch genannt hast, wie früher eben Zünfte organisiert waren, und nur 10 % machen das formelle Lernen aus. Würdest du diese These unterstützen und unterschreiben, dass es halt wirklich überwiegend ein unorganisiertes informelles Lernen ist, was die Kompetenzentwicklung im Betrieb ausmacht?

Prof. Dr. Rita Meyer: Ja, das würde ich schon unterstreichen. Es gibt ja diesen schönen Begriff – die normative Kraft des Faktischen – es funktioniert ja und Deutschland steht sehr gut da. Man darf auch nicht vergessen, wie gut Deutschland aus der Finanzkrise 2009 wieder herausgekommen ist. Ich glaube aber, dass das auch damit zusammenhängt, dass wir für die Weiterbildung diesen absolut soliden Unterbau der Berufsausbildung haben. Denn der Mehrwert, dass wir diese beruflich ausgebildeten Fachkräfte haben, ist ja zum Beispiel, dass die viel eigenverantwortlicher arbeiten können, dass man ihnen viel mehr Verantwortung übertragen kann. Im Endeffekt heißt das, was auch empirisch nachgewiesen ist, dass wir deutlich weniger Hierarchieebenen in den deutschen Unternehmen haben als zum Beispiel in französischen Unternehmen, mit viel mehr Kontrollinstanzen. Das heißt, dass was hier informell alles läuft, ist irgendwie auch kulturell bedingt. Wir sehen gerade auch in Unternehmen, die dann von amerikanischen Konzernen übernommen werden, dass es da einen richtigen Clash gibt. Die Amerikaner verstehen überhaupt nicht, was sich hier für eine informelle Struktur ausgebildet hat und wie diese informelle Weiterbildung irgendwie funktioniert. Dann werden Strukturen eingezogen, die das auch zum Teil kaputtmachen. Das ist auch eine Aufgabe der Akteure in den Personalabteilungen, sich noch einmal wirklich bewusst zu machen, was das genau für Prozesse sind, die da ablaufen.

eLearning Journal: Ich nehme da auch in den letzten Jahren zunehmend eine Unsicherheit in den Personalabteilungen wahr, wie schnell so ein Change zu erwarten ist. Es gibt nicht wenige trendige Rufer, die sagen, wir bewegen uns rasant durch die Digitalisierung in eine neue VUCA-Welt, auf der kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Würdest du dich dem auch anschließen und sagen, wir müssen aufpassen, dass unsere Beruflichkeit nicht über Nacht ins Rutschen kommt? Oder wie schätzt du die Zeitfenster für die Personalabteilungen ein, ihre Strukturen weiterzuentwickeln?

Prof. Dr. Rita Meyer: Die wissenschaftliche Einschätzung insgesamt ist tatsächlich so, dass es kein disruptiver, sondern ein evolutionärer Prozess ist. Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass wir aus dem Stand für die gesamten Universitäten in Deutschland ein funktionierendes Onlineangebot auf die Beine stellen können. Das hätte ich wirklich nicht gedacht, dass das geht. Aber es ging und es hat nicht alles durcheinandergeworfen und es ist nichts zusammengebrochen. Noch einmal ein anderes Beispiel: Ich habe 1985 bei Continental in Hannover eine Berufsausbildung angefangen, da haben wir noch Listen mit der Hand geführt. 1989 ist der Personalcomputer eingeführt worden und man hat gedacht, dass jetzt alles durcheinandergeworfen wird. Natürlich hat sich auch einiges verändert, aber z.B. ist unser Konzept von Beruflichkeit stabil geblieben und hat sich angepasst. Ich glaube, so wird das in Zukunft auch sein, zumal wir jetzt ja auch darauf eingestellt isnd. Wir lernen jetzt schneller und selbst ältere Menschen haben inzwischen ein Interesse daran und verweigern sich immer weniger. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft das schaffen wird. Und ich glaube auch, das die Unternehmen damit verantwortungsvoll umgehen und verstehen, dass es Partizipationsmöglichkeiten für die Beschäftigten gibt und sie somit nicht überrollt werden. Weil, dann steigen sie gewissermaßen über die Exitstrategie bei Überforderung aus.

eLearning Journal: In Unternehmen nimmt global der Anteil an digital gestützter informeller und formeller Weiterbildung immer mehr zu. Welchen Stellenwert spielt eigentlich in der Lehre die Digitalisierung und welche Einschätzung hast du, in welcher Geschwindigkeit wir uns in den Betrieben darauf einstellen müssen, dass auch die betriebliche Bildung immer digitaler organisiert sein wird?

Prof. Dr. Rita Meyer: Wie soll man diese Frage beantworten, wenn wir doch gerade festgestellt haben, dass 70 % des Lernens überhaupt nicht organisiert ist? Wie wollen wir es dann digital organisieren und warum? Es gab ja schon einige Wellen dessen, was wir heute eLearning nennen. Also so computergesteuerte Selbstlernprogramme, das hat sich alles nicht bewährt und aus gutem Grund. Die anlassbezogene Bildung ergibt Sinn. Ich lerne, wenn ich weiß, dass ich einen konkreten Verwertungskontext habe. Wenn das, was ich lernen soll oder will also an irgendetwas andockt, was in meinem Kopf eine Relevanz hat. Und es macht meiner Meinung nach keinem Sinn im großen Gießkannenprinzip Weiterbildungs-eLearning-Maßnahmen zu entwickeln, sondern man sollte immer vom Fall ausgehen.

eLearning Journal: Vielen Dank für diese Orientierung zur neuen Beruflichkeit.

Redaktion: Lars Wicke

Beitragsbild: AdobeStock – kasto


Profil

Prof. Dr. Rita Meyer

ist Professorin für Berufspädagogik am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung (IfBE) der Leibniz Universität Hannover. Sie ist eine Expertin auf dem Gebiet der Veränderung von Arbeit und Beruflichkeit, berufliche und betriebliche Kompetenzentwicklung sowie wissenschaftliche Weiterbildung. Sie ist in eine Vielzahl von Forschungsprojekten an der Schnittstelle aus Wissenschaft und Wirtschaft involviert, wie zum Beispiel das Projekt „Lernort Betrieb 4.0“.

 


Literatur

Rita Meyer:

Berufsbegleitende Studiengänge im Mint-Sektor

In diesem Buch werden die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Durchlässigkeit in naturwissenschaftlich-technischen (MINT-)Berufen. Qualifizierungswege in beruflicher und hochschulischer Bildung“ dokumentiert. Dieses von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Projekt wurde in der Zeit von März 2014 bist Juni 2017 am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung (IfBE) der Leibniz Universität Hannover durchgeführt. Dazu wurden unter anderem die Motivationen, Anforderungen und Erfolgsfaktoren berufstätiger und beruflich qualifizierter Studierender erhoben und analysiert.

 


Kontakt

Prof. Dr. Rita Meyer
Ifbe Universität Hannover

Schloßwender Straße 1
D-30159 Hannover

Tel.: +49 (0) 511 / 762 30 33

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