Heterogenität und das Bedürfnis nach Personalisierung

Eine gute Ausbildung und lebenslanges (Weiter-)Lernen sind als Erfordernisse weitherum etabliert. Die dafür verfügbaren Mittel erscheinen aber immer (zu) knapp. Hinzu kommt, dass Lebensläufe, Berufs- und Bildungsbiografien vielfältiger sind als früher. Und dann haben sich auch noch unsere Erwartungen an Dienstleistungen und Produkte geändert. Was wir vom Musik-Streaming-Dienstleister gewohnt sind, erwarten wir zunehmend auch bei der (Weiter-)Bildung: Ein auf mich persönlich zugeschnittenes Angebot.

Autor: Dr. Christoph Meier

Die Diversität bzw. Heterogenität von Teilnehmenden als Herausforderung für Bildungsverantwortliche ist kein neues Thema. Experimente haben schon Mitte der 1980er Jahre gezeigt, dass Lernende, die in einer 1:1-Situation von Tutoren individuell betreut wurden, bei Lernerfolgsüberprüfungen sehr viel besser abschnitten als Lernende in konventionellem Frontalunterricht. Eine solche tutorielle Einzelbetreuung ist nun aber in der Regel kein tragfähiges und bezahlbares Modell. Vor diesem Hintergrund werden hohe Erwartungen an adaptive Lernumgebungen und intelligente tutorielle Systeme herangetragen. Erwartet wird, dass über diese Systeme hochgradig lernwirksame, individualisierte Lernpfade bzw. Lernunterstützung für eine grosse Anzahl von Menschen möglich werden – bei vertretbarem Ressourcenaufwand.

Cristoph Meier
Abb. 1: Zentrale Elemente einer adaptiven Lernumgebung bzw. eines intelligenten tutoriellen Systems.

Künstliche Intelligenz und KI-basierte, adaptive Lernumgebungen

‘Künstliche Intelligenz’ (KI) kann vereinfachend als die Realisierung von intelligentem Verhalten und den zugrundeliegenden kognitiven Fähigkeiten auf Computern definiert werden (Wahlster 2017). Ein Beispiel für eine uns gut vertraute und auf KI basierende technische Lösung sind Navigationssysteme für Fahrzeuge.

Adaptive Lernumgebungen sind Lernumgebungen, die sich in Echtzeit an die Benutzer und ihren Lernstand anpassen. Dies geschieht auf der Grundlage einer durch Algorithmen (KI) gesteuerten Verarbeitung von Daten. Als «adaptives Lernen» wird ein Ansatz bezeichnet, bei dem Computer als interaktive Lehr-/Lernhilfen eingesetzt werden und ein individualisiertes Lernerlebnis (Lernpfade, Feedback, Hilfestellungen) möglich ist.

Für eine erste Orientierung ist es sinnvoll, folgende Typen von KI-basierten, adaptiven Lernumgebungen zu unterscheiden (vgl. auch Bialik et al. 2019):

Der am besten bekannte Typ von adaptiven Lernumgebungen sind intelligente tutorielle System (ITS). Diese weisen in der Regel drei zentrale Komponenten auf, über die eine Anpassung an den einzelnen Lernenden erfolgt: das Domänen-Modell, das tutorielle Modell sowie das Lernenden-Modell (vgl. Abb. 1).

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Hinweis: Die Nennung von Beispielen beinhaltet keine positive Bewertung der genannten Anbieter bzw. Services.

Das Domänen-Modell beinhaltet Informationen zu fachlichen Inhalten, zu Lernobjekten (Beispiele, Grafiken, Übungsaufgaben, etc.) und zu deren Beziehungen untereinander. Konkret kann ein Domänen-Modell beispielsweise Informationen zur Baufinanzierung, zu Möglichkeiten der Finanzierung sowie zur Gestaltung des Gesprächs- und Beratungsprozesses beinhalten.

Das tutorielle Modell beinhaltet unter anderem Informationen zu möglichen Lernpfaden, wann welche Informationen zur Verfügung gestellt werden sowie wann und in welcher Form den Lernenden Feedback gegeben wird.

Das Lernenden-Modell schliesslich beinhaltet Informationen dazu, welche Elemente des Domänen-Modells die Lernenden bereits bearbeitet hat, wie lange üblicherweise die Lernsitzungen dauern, wie viele Wiederholungen es braucht, bis ein Konzept mit mittlerem Schwierigkeitsgrad beherrscht wird, usw.

KI-basierte, adaptive Lernumgebungen sind wirksam

Üblicherweise unterstellen wir, dass eine Unterstützung von Lernenden durch menschliche Tutoren zu deutlich besseren Ergebnissen führt als die Unterstützung durch verschiedene Arten von technischen Lösungen. Diese Erwartung beruht auf der Annahme, dass menschliche Tutoren leistungsfähiger sind, weil sie u.a.

  • den Wissens- / Leistungsstand von Lernenden besser einschätzen können;
  • Aufgabenstellungen besser auf einzelne Lernende zuschneiden können;
  • über leistungsfähigere Lehrstrategien verfügen (z.B. Bewertungen zurückhalten und nach Begründungen fragen);
  • Dialoge ermöglichen (z.B. Gegenfragen stellen);
  • über ein breiteres & tieferes Domänenwissen verfügen;
  • punktgenau Feedback zu (irrigen) Argumentationen oder Ergebnissen liefern können.

Ein wichtiges Ergebnis wissenschaftlicher Studien in diesem Feld ist allerdings, dass diese Annahme so nicht haltbar ist (z.B. VanLehn 2011, S 198-200; Kulik und Fletcher 2016). Die Ergebnisse von VanLehn zeigen, dass tutorielle Systeme mit sehr granularer Unterstützung bzw. sehr fein gegliedertem Feedback für die Lernenden(«Step-based») zu Effektgrössen bzw. zu Lernerfolgen führen, die annähernd denen der Lernunterstützung durch menschliche Tutoren entsprechen.

Einsatz von intelligenten tutoriellen Systemen

In Zuge der Planung und Einführung eines intelligenten tutoriellen Systems sind insbesondere die folgenden Schritte erforderlich:

1) Klärung der Zielsetzungen

Welche Zielsetzungen sollen über den Einsatz des adaptiven, intelligenten tutoriellen Systems erreicht werden? Soll durch individualisierte Lernpfade primär die für das Erreichen der Lernziele (Mastery) erforderliche Lernzeit reduziert werden? Soll die Motivation der Lernenden gestärkt werden, indem die Lernumgebung den individuellen Wissensstand berücksichtigt und das Behandeln von Inhalten, die schon bekannt sind, vermeidet?

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Abb. 2: Auswertung zu durchschnittlichen Lernzeiten für einzelne Inhalte-Elemente (Bildquelle: scil / area9).

2) Einschätzung der Zielgruppe

Intelligente tutorielle Systeme basieren darauf, dass grosse Mengen an Daten zu den Interaktionen der Lernenden mit den Lernmaterialien erzeugt und ausgewertet werden (vgl. Abb. 2, rechts). Dies muss den Nutzern bzw. den Lernenden transparent gemacht werden. Damit verbundene Sorgen (z.B. Was für Daten werden da erzeugt? Wer sieht meine Daten bzw. Ergebnisse? Was passiert mit meinen Daten?) müssen ernst genommen und behandelt werden.

3) Lernarchitektur planen bzw. anpassen

Die Nutzung intelligenter tutorieller Systeme erfordert spezifische Plattformen und Autorenwerkzeuge. Hier gilt es zu klären, ob für die Umsetzung von adaptiven Lernumgebungen neue oder zusätzliche technische Systeme erforderlich werden oder ob diese mit den bereits im Einsatz befindlichen Systemen umgesetzt werden können.

4) Entwicklung von Lerneinheiten

Die Umsetzung von Materialien für intelligente tutorielle Systeme erfordert ein anderes Vorgehen bei der Entwicklung von Lernmaterialien. So müssen nur die Lernziele genauer und detaillierter formuliert werden, als dies bei «traditionellen» WBT-Produktionen erforderlich ist (Erfahrungsberichte sprechen von einer Verfeinerung der definierten und in den Inhalten umgesetzten Lernziele um den Faktor fünf bis zehn) (vgl. Abb. 2, links). Zudem steht die Entwicklung von Test-Items eher im Zentrum der Autorentätigkeit als die Entwicklung von Inhalte-Materialien. Letztere haben in diesem Kontext eher einen ergänzenden Charakter.

5) Verfügbare Daten nutzen

Zum Teil liefern die auf adaptives Lernen ausgerichteten Plattformen umfangreiche statistische Auswertungen, die für die Gestaltung der Inhalte-Elemente bzw. der zugehörigen Test-Items genutzt werden können. So zeigt etwa die Tabelle in Abb. 2 rechts unten an, an, wie viel Zeit die Lernenden im Schnitt benötigt haben, um den jeweiligen Inhalt erfolgreich zu lernen. Wenn Werte stark voneinander abweichen, ist dies ein Hinweise darauf, dass Handlungsbedarf bei der konkreten Gestaltung von Items besteht.

6) Monotonie im Lernprozess vermeiden

Auch wenn adaptive bzw. intelligente tutorielle Systeme darauf ausgerichtet sind, die Lernenden immer optimal zu fordern, so kann ein auf einer Abfolge von vielen kurzen Zyklen bestehender Lernprozess (Bearbeitung eines Test-Items und – bei falscher Antwort – nachfolgender Bearbeitung einer kleinen, auf das Test-Item bezogenen Lernressource) für die Lernenden monoton wirken. Dem Eindruck von Monotonie kann über zwei Wege entgegengewirkt werden:

a) Bandbreite verfügbarer Aufgabe- bzw. Fragetypen ausschöpfen

Je nach Plattform und Autorensystem stehen unterschiedliche Typen von automatisch auswertbaren Fragen zur Verfügung. Mögliche Aufgabentypen sind unter anderem:

  • Einfachauswahl
  • Mehrfachauswahl
  • Lückentext (mit vorgegebenen Auswahloptionen)
  • Anordnung / Rangierung
  • Zuordnung
  • Kategorisierung
  • Identifikation von Elementen in einer Grafik

b) Mikro-Inhalte abwechslungsreich gestalten

Neben der Variation der Aufgabentypen trägt auch eine gute Variation bei der Gestaltung der Mikro-Lerninhalte zum Vermeiden von Monotonie bei der Bearbeitung bei. Diese Mikro-Lerninhalte können beispielsweise textuell umgesetzt sein (vgl. das Beispiel in Abb. 3), über Grafiken oder über kurze Audio- bzw. Videoclips.

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Abb. 3: Beispiel für die Benutzeroberfläche aus Sicht der Lernenden bei einem intelligenten tutoriellen System (Bildquelle: scil / area9).

7) Vorbereitung der Lernenden auf eine andere Lernerfahrung

Die Arbeit mit intelligenten tutoriellen Systemen führt zu einem deutlich anderen Lernerlebnis für die Lernenden. Der Lernprozess wird kontinuierlich durch die Bearbeitung von kleinen Test-Items angetrieben. Die Lernenden müssen darauf vorbereitet werden bzw. ihre Erwartungen müssen diesbezüglich angepasst werden.

Was intelligente tutorielle Systeme eher nicht bieten – und worauf die Nutzer bzw. Lernenden ebenfalls eingestellt werden müssen – ist eine bekannte und etablierte Dramaturgie wie etwa eine Themenübersicht zu Beginn, eine vorhersehbare Bewegung von Grundlagen zu Vertiefungen, vom Einfachem zum Schwierigem, eine Gesamtübersicht am Ende des Lernprozesses sowie gegebenenfalls eine anspruchsvolle Aufgabenstellung, die zahlreiche Einzelaspekte der Lerneinheit integriert.

Im Sinne eines zielführenden Erwartungsmanagements sind zwei Aspekte wichtig. Zum einen sollte gegenüber den Nutzern bzw. Lernenden herausgestellt werden, dass intelligente tutorielle Systeme für jeden Lernenden den jeweils schnellsten zum Ziel (Mastery) führenden Lernpfad bereitstellen. Das heisst, den Lernpfad, der für jede und jeden am schnellsten zum nachgewiesenen Beherrschen des erforderlichen Wissens bzw. der erforderlichen Fertigkeiten führt. Damit verbunden ist in der Regel eine Reduktion der erforderlichen Arbeits- bzw. Lernzeit. Ein Whitepaper des Anbieters Area9 Lyceum spricht davon, dass eine Reduktion der Lernzeiten um 50% nicht ungewöhnlich ist (area9learning 2017).

Zum anderen stehen den Lernenden in der Regel verschiedene Auswertungen zur Verfügung, die den jeweils eigenen Standort im Hinblick auf das zu erreichende Ziel anzeigen (vgl. Abbildung 21 für ein Beispiel, insbesondere die Informationen auf der rechten Seite). Die Nutzer / Lernenden sollten in der Lage sein, diese Auswertungen bzw. Hinweise zu interpretieren und bei der Steuerung ihres eigenen Lernprozesses zu berücksichtigen.


Literatur

area9learning (2017): adaptive learning. Eliminating corporate e-learning fatique. area9learning. area9learning.com. Online verfügbar unter https://offers.area9learning.com/adaptive-learning-whitepaper, zuletzt aktualisiert am 01.06.2018.
edcast (2016): How to solve the content discovery problem in corporate learning. ed-cast.com. edcast.com. Online verfügbar unter https://drive.google.com/file/d/0B3Y0XMA3dF1PNFJ6WEMxOXJEc1E/view, zuletzt geprüft am 01.06.2018.
Holmes, Wayne; Bialik, Maya; Fadel, Charles (2019): Artificial intelligence in education. Promises and implications for teaching and learning. Boston, MA: Center for Curriculum Redesign.
Howe, Nick (2017): Adaptive learning insights. A practical guide to the future of corpo-rate training. area9learning. Chestnut Hill, MA.
Kulik, James A.; Fletcher, J. D. (2016): Effectiveness of Intelligent Tutoring Systems. In: Review of Educational Research 86 (1), S. 42–78.
Meier, Christoph (2019): 9.14 – KI-basierte, adaptive Lernumgebungen. In: Karl Wilbers (Hg.): Handbuch E-Learning. Expertenwissen aus Wissenschaft und Praxis – Strategien, Instrumente, Fallstudien, 80. Ergänzungslieferung, April 2019. Köln: Deutscher Wirtschaftsdienst, S. 1–21.
VanLehn, Kurt (2011): The Relative Effectiveness of Human Tutoring, Intelligent Tuto-ring Systems, and Other Tutoring Systems. In: Educational Psychologist 46 (4), S. 197–221. DOI: 10.1080/00461520.2011.611369.
Wahlster, Wolfgang (2017): Künstliche Intelligenz versus menschliche Intelligenz: Wie lernen, verstehen und denken Computer? Künstliche Intelligenz für den Menschen: Digitalisierung mit Verstand. Johannes Gutenberg Universität Mainz. Mainz, 02.05.2017. Online verfügbar unter http://www.dfki.de/wwdata/Gutenberg_Stiftungsprofessur_Mainz_2017/Lernende_Maschinen.pdf.

Der Autor:

Cristoph Meier

Dr. Christoph Meier

ist Geschäftsführer von scil an der Universität St.Gallen. Er unterstützt Bildungsorganisationen bei der Bewältigung der digitalen Transformation, der Weiterentwicklung des Bildungsmanagements sowie der Kompetenzentwicklung der Beschäftigten. Er ist zudem als Fachcoach aktiv sowie als Fachreferent bzw. Lernbegleiter im Rahmen der Zertifikats- und Diplomprogramme der scil academy.

 


Kontakt:

Christoph Meier
swiss competence centre for innovations in learning

Universität St.Gallen

christoph.meier@unisg.ch
www.scil.ch