Endlos Lernen – Natürliche Prozesse strukturieren

12.06.2020 | Lesezeit ca. 13 Minuten
Eine Reflektion zum #SUMMITpodcast “Agiles Lernen”

Mann vor Konzepttafel
© Asha Sreenivas – stock.adobe.com

Am 29. Mai startete unser erster SUMMITpodcast mit unserem Gast: Frau Prof. Dr. Nele Graf. Kurz danach veröffentlichten wir unsere Programmplanung für die eLearning SUMMIT Tour 2020 also auch für den eLearning SUMMIT digital – unsere neue digitale Veranstaltungsreihe. Jetzt – einige Tage nach dem Launch – ist es Zeit für eine erste Reflexion.

Mit dem Thema: „Agiles Lernen“ bzw. „Agil Learning“ sind wir am in den ersten #eLearningFriday10am gestartet: Ein facettenreiches Thema, dass in 4.850.000 bzw. 8.210.000 Ergebnissen auf Google über „Lernen im Arbeitsprozess“, „Neuen Rollen, Kompetenzen und Methoden“ und „agile Führungskräfteentwicklung“ informiert. Dabei fallen mitunter die verschiedensten Buzzwords: Ob nun Learnagility, New Learning und Lernen 4.0 – die begriffliche Distinktheit des Terminus „Agiles Lernen“ nimmt dabei immer weiter ab. Was bedeutet nun agiles Lernen und welche Aspekte und Kompetenzen sind für eine Definition notwendig?

Das es hierbei zu Begriffsungenauigkeiten kommt, versteht sich von selbst. Frau Graf erklärt: „Agiles Lernen wird häufig eher aus Marketinggründen verwendet.“ Was heißt also Agilität und was heißt agiles

Arbeiten? „Es geht um die Veränderungsnotwendigkeit als Grundgedanken und als Lernziel eigentlich die Anpassung und Innovation.“ Ihre These stützt Frau Prof. Dr. Graf mit dem zunehmenden Wandel in der Welt: „Wir leben nun einmal in einer Welt des permanenten Wandels und müssen da gucken, wie wir es schaffen, iterativ vorzugehen, um beim Arbeiten Kundenwünsche zu realisieren und eben beim Lernen auch [die eigenen] Kompetenzen so aufzubauen, dass ich langfristig für mein Unternehmen erfolgreich sein kann und meine eigene Employability stärken kann“

Es bedeutet zeitgleich aber auch, dass „die Rolle des Lerners“ sich verändert, da er „deutlich selbstgesteuerter Lernen muss und darf.“ Wichtig ist entsprechend, herauszufinden, ob das eigene Unternehmen bereits einige oder mehrere Parameter aufweist, die ihn für einen Try-Out zum Agilen Lernen eignet.

Was sind konkrete Voraussetzung, damit ich ein Betrieb sich mit agilem Lernen auch konstruktiv beschäftigen kann?

„Es geht hauptsächlich ja darum, beim Lernen das „Wofür?“ zu klären und zu gucken, wie das Lernen möglichst situativ, arbeitsplatzorientiert und schnell sowie erfolgreich passieren kann. Das heißt: Wir gehen sowohl dahin, dass bestimmte neue Formate relevant werden, soziale Kollaboration – also miteinander Lernen – und […] natürlich [auch] das Thema: Wie schaffen wir es, dass jeder genau das lernt oder Möglichkeiten hat das zu lernen, was er gerade braucht? Und das zahlt […] auch auf die Formate ein, die besonders prozessual, d.h. stark strukturiert sind, wie z.B. auch beim agilen Arbeiten in Systemen wie SCRUM und Kanban. […] Der Prozess ist klar, aber die Möglichkeiten, was ich inhaltlich damit mache, sind sehr flexibel.“ (Prof. Dr. Nele Graf, SUMMITpodcast Vol. 1)

Wenn du dich für die Digitalisierung eines Präsenztrainings mittels der Scrum-Methode interessierst, kann ich übrigens diesen Artikel von unserem Gewinner des eLearning AWARDS 2020 in der Kategorie: Agiles Projektmanagement empfehlen – einfach hier klicken

Nach Frau Prof. Dr. Nele Graf gibt es verschiedene Rahmenbedingungen, die als Anzeiger für einen erfolgversprechenden Start von agilem Lernen wirken können. Doch welche Aspekte und Entwicklungen können als solche Anzeiger gedeutet werden?

„Ich glaube, wenn wir genau diesen Wechsel haben von dieser Angebotsorientierung zu dieser Nachfrageorientierung, dann entsteht zwischendurch ein Vakuum. Denn wir als Personalentwickler müssen auf der einen Seite loslassen und der Lerner muss die Verantwortung übernehmen. Das erst einmal auszuhalten und darüber hinaus Stützung zu geben, ist nicht einfach. Also ich denke dabei an sowas wie Lernkompetenzen zu fördern, Lerncoachings anzubieten, die Mitarbeiter in diesem Prozess also auch zu unterstützen. Auf der anderen Seite geht es natürlich auch um die Kultur. Also welche Organisationskultur haben wir, wie gehen wir mit Fehlern um? Wie sehr sind wir darauf aus uns zu verändern, zu lernen und gemeinsam auch weiterzuentwickeln? Und da gehören auch so kleine Schnipsel mit dazu wie zum Beispiel individuelle Boni. Denn wenn wir es hier eigentlich in unserer Unternehmens-DNA drin haben, dass ich dafür bezahlt werde, besser zu sein als die Anderen und sich darüber auch mein Bonus definiert, dann ist natürlich das Thema Wissen teilen und Kollaboration und miteinander sich zu verändern und zu wachsen, ein deutlich schwereres Thema. Und so gibts ganz viele verschiedene Parts, die natürlich zusammen funktionieren müssen.” (Prof. Dr. Nele Graf, SUMMITpodcast Vol. 1)

Auch Herr Siepmann ging in seinem Gespräch mit Frau Prof. Dr. Graf auf den Aspekt ein, dass diese Antwort einen sehr weitreichenden Einschnitt in die Lern- und damit auch in die Unternehmenskultur haben kann. Hier geschieht aber auch ein unvermeidbarer Wandel bezogen auf die Wahrnehmung von Lehr- und Lernprozessen: Lernen etabliert sich als lebenslanger Prozess, bei dem auf verschiedene Arten und Weisen Wissen generiert und verarbeitet werden kann. Frau Prof. Dr. Graf sprach diesen Umstand im Podcast an, als sie auf das 70:20:10-Modell einging. Hier geht es einerseits also um Veränderungsprozesse.

Wer sich übrigens für Veränderungsprozesse in Unternehmen interessiert, der sei an dieser Stelle auf unsere 18. Podcastfolge mit Herrn Prof. Dr. Axel Koch als Gast verwiesen, die am 13.11.2020 veröffentlicht wird. Als Einstieg empfehle ich seinen Artikel: „Change-Diät statt Aktionismus – Das neue Leiden am Veränderungstempo und was Sie beachten müssen“ – ihr findet Ihn direkt hier.

Zum anderen geht es auch um ein neues Verständnis von Lernen als lebenslangen Prozess. Der Mitarbeiter kann durch agile Lernmethoden also autoritativ geleitet und immer mehr in die absolute Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit überführt werden – das ist ein Ziel dieser veränderten Lernkultur. Es geht aber auch darum, Mitarbeiter zu fördern, um ihnen die eigenen Kompetenzentwicklung bewusster werden zu lassen – mehr noch: Ihn dazu befähigen, seine Kompetenzentwicklung sogar positiv beeinflussen und strategisch auszurichten zu können. Dabei geht es laut Prof. Dr. Graf nicht primär darum, ob der Lernende an agilen Lernmethoden interessiert ist oder eine Bereitschaft zu dessen Umsetzung mitbringt:

“Ich glaube, dass die Frage anders lauten muss. Ich glaube Agiles Lernen hat mit hoher Selbststeuerung des Lernens zu tun und das ist die Zukunft des Lernens, weil die Jobs sich permanent ändern und immer individueller und spezifischer werden. Das heißt die Frage ist also weniger wie bereit sind Sie, sondern wie fördern wir den Weg dorthin? Da geht es viel um Sinnhaftigkeit, also zu verstehen, was muss ich denn können und auch die Thematisierung davon, dass Lernen zu dem Job gehört.” (Prof Dr. Nele Graf, SUMMITpodcast Vol. 1)

Das Modell des lebenslangen Lernens impliziert einen stetigen Kompetenzgewinn, was wiederum jedoch auch entsprechend vergütet werden muss: Schließlich prognostiziert das Modell, dass ein Mitarbeiter Jahre nach seiner Einstellung ein höheres Kompetenzniveau hat, dass er sowohl durch formelle und informelle Lernprozesse entwickelt haben kann. Dabei ist fraglich, ob dieser Kompetenzgewinn in Bezug auf seine Vergütung auch durch eine Gehaltserhöhung binnen dieser 5 Jahre ausbalanciert wurde. Frau Prof Dr. Nele Graf beschrieb das wie folgt:

“Also ist der Job, wofür ich bezahlt werde, reines Arbeiten oder ist der Job für den ich bezahlt werde Arbeiten + ein bisschen Lernen, um es mal sporadisch einfließen zu lassen oder ist mein Job Arbeiten und Lernen in einer Kombination, wo es gar nicht mehr klar ist, was Arbeiten und was Lernen ist. Also da mal sich die Frage zu stellen, auch wie verstehen wir Lernen in unserer Organisation, wäre zum Beispiel der erste Punkt. Ein weiteres schönes Indiz ist, wenn ich zum Beispiel schon eLearning eingeführt habe, wie aktiv wird das denn genutzt? Wie selbstgesteuert nutzen die Mitarbeiter das und wie selbstgesteuert fragen sie vielleicht auch andere Themen oder Inhalte oder Formate nach. Also sind sie noch in der reinen Konsumentenhaltung oder sind sie Mitgestalter ihrer eigenen Lernprozesse?” (Prof. Dr. Nele Graf, SUMMITpodcast Vol. 1)

Betrachtet man jedoch die Fehler, die in der Personalentwicklung bereits gemacht wurden bzw. sich derzeit fortsetzen, so wird deutlich, dass dieser Fokus noch immer nicht in den Personal- und Weiterbildungsabteilungen angekommen ist.

Welche Herausforderungen sind in Zusammenhang mit agilem Lernen zu erwarten – gibt es bereits Erfahrungswerte?

Denn wir haben jetzt glaube ich wirklich schon zweimal den Fehler gemacht in der Personalentwicklung, uns viel mehr auf die Formate zu konzentrieren als auf die Mitnahme der Mitarbeiter. Ich erinnere nur 1999/2000, da gab es WBTs und CBTs und da waren alle schwer begeistert und wir haben uns überlegt, wie kann man es in die Führungskräfteentwicklung und Mitarbeiterentwicklung mit reinnehmen und haben eigentlich viel zu wenig thematisiert, dass sich plötzlich die Anforderungen ans Lernen ändern. Und, korrigieren Sie mich, wenn Sie einen anderen Eindruck haben, aber ich habe das Gefühl, dass wir im Moment auch ganz viel motiviert sind durch Formate mit neuen Möglichkeiten: Wir reden von Virtual Reality, Gamification, Augmented Reality, Serious Games, Learning Analytics, über all diese tollen neuen digitalen Themen. Aber die Frage ist, was macht das mit dem Lerner und wie bereiten wir die Lerner vor, damit umgehen zu können?

Der Fokus auf neue Entwicklungen führt also häufig zu falschen Erwartungen – etwas, dass sich auch für den Bereich der künstlichen Intelligenz bestätigen lässt. Der Fokus scheint primär darauf zu liegen, durch spannende Formate den Lernenden zum Lernen zu motivieren. Das mag zwar auf den ersten Blick ein klassischer Prozess aus den Bildungs- oder auch den Erziehungswissenschaften sein. Grundsätzlich ist der Prozess für das Modell des lebenslangen Lernens nicht relevant. Vielmehr müssen die einzelnen Akteure im Unternehmen verstehen, dass durch das Verständnis von Lernen als einen lebenslangen Prozess die Umsetzung und Etablierung einer stabilen und agilen Veränderungkultur nicht nur fakultativ essentiell sondern obligatorisch ist: Damit Unternehmen dem zunehmenden wirtschaftlichen Druck von außen als auch der zunehmenden Entwicklungsgeschwindigkeit dieses Zeitalters gerecht werden können, müssen die Mitarbeiter akzeptieren, dass sie sich in einem Veränderungsprozess befinden und die stetige Analyse und Auswertung dieses Prozesses Teil einer neuen Unternehmensrealität werden muss und werden wird. Herr Siepmann gab im Gespräch mit Frau Prof. Dr. Graf entsprechend zu bedenken, dass die Unternehmen noch nicht über eine ausreichende Systematik verfügen, um diese Veränderungs- und Entwicklungsprozesse kompetent begleiten zu können.

“Nehmen wir die LEARNTEC, die Mutter aller eLearning-Veranstaltungen: da schlendert man über die Messe und sieht etwas, was entwickelt wurde, kauft es ein und erprobt im eigenen Haus, ob es zu den eigenen Lernern und Stakeholdern passt. Und wenn man Glück hat, dann ist es eine weitere Methodik, die im Portfolio zum Zuge kommen kann. Aber in den Unternehmen, ist es ein relativ autistischer Trial- and Error-Prozess, den parallel jedes Unternehmen für sich durchmacht. Und da scheint es doch auffällig zu sein, dass die Methoden, die eingesetzt werden, doch relativ stark als Einzelmaßnahmen wirken, das heißt es wird Einzelmaßnahme nach Einzelmaßnahme ausgebracht. Und wenn wir in den eLearning BENCHMARKING Studien untersuchen: Gibt es in Ihrem Haus eine Trainingsstrategie? Wie oft wird die überarbeitet? – Dann sehen wir, dass es in der Hälfte der befragten Unternehmen, die in der Regel mehr als 1000 Mitarbeiter haben und auch eLearning anwenden, eben keine Trainingsstrategie gibt.” (Frank Siepmann, SUMMITpodcast Vol. 1)

Ob sich bestimmte Branchen identifizieren lassen, insofern als dass sie eher oder weniger für die Umsetzung agiler Lernmethoden geeignet sind, dazu wollte sich Frau Prof. Dr. Nele Graf nicht äußern – ihr Fokus liegt vielmehr darauf, die Idee und die Notwendigkeit von agilen Lernmethoden zu transportieren:

“Es geht darum, dass wir gezielter, iterativer, kollaborativer mit mehr Reflektion, individualisierter, arbeitsplatzorientierter Lernen müssen. In diesem Fall mal ganz bewusst das Wort müssen. Weil die Veränderungen einfach viel zu schnell stattfinden. Und da geht es darum, eben die Mitarbeiter dort hinzunehmen. Und da ist es egal, ob ich Führungskräfte oder Produktion oder gewerbliche Mitarbeiter oder Bürokräfte oder Sonstiges habe. Alle müssen mitgehen! Und da geht es eben darum zu gucken, sie zu fördern: wie können wir diesen Wandel gestalten?” (Prof. Dr. Nele Graf, SUMMITpodcast Vol. 1)

XING-Userkommentar (anonymisiert)

In diesem Kontext verweist Frau Prof. Dr. Nele Graf noch einmal auf die Definition des Begriffs „Agiles Lernen“:

Agil heißt ja eigentlich mit dem Kunden zusammen, in sehr engem Austausch. Das heißt warum erstellen die Lerner nicht den Content mit? Warum gehen die nicht auch mit dem Dienstleister direkt ins Sparring anstatt den Prozess des Anwendens und des Konzipierens so krass zu trennen, wie es gerade häufig passiert.

Was ist also eine Aussage über die digitale Transformation der betrieblichen Bildung, die wir von Frau Prof. Dr. Nele Graf übernehmen und daraus lernen können:

“Die digitale Transformation, über die so viel geredet wird, ist eine Transformation, die erst einmal auf der menschlichen Ebene stattfindet: Ängsteabbau, Kompetenzaufbau.