Change-Diät statt Aktionismus

Das neue Leiden am Veränderungstempo und was Sie beachten müssen

Das Veränderungstempo in den Unternehmen nimmt seit Jahren zu. Die digitale Transformation bringt mit sich, dass die Beschäftigten immer schneller Neues lernen und sich an neue Gegebenheiten anpassen müssen. Doch wieviel Veränderung halten die Mitarbeiter überhaupt aus?

Irgendwo im Unternehmen rumort es eigentlich immer. Gründe dafür gibt es viele: Chefwechsel, Restrukturierungen, Kulturwandel oder Fusionen. Keine Zeit zum Durchatmen. Gerade wussten die Mitarbeiter noch, wo es langgeht, schon kommt wieder etwas Neues um die Ecke. Und die Betroffenen fragen sich: Wie komme ich da noch mit? Wie lange halte ich das alles eigentlich aus?

Das sind berechtigte Fragen. Denn Change ist meistens „on top“ zum Tagesgeschäft. Das unterstreicht auch eine Studie, der zufolge 80 Prozent der 271 befragten Führungskräfte und Mitarbeiter in Veränderungsprozessen keinerlei Entlastungen von ihrer üblichen Arbeit erhalten, obwohl sie einen Großteil ihrer Zeit für die Change-Projekte aufbringen müssen. Das sorgt für Arbeitsverdichtung, Zeitdruck und Überstunden (Schmidt, 2017).

Wandel muss sein. Ohne Zweifel. Doch eigene Interviews mit Mitarbeitern (Koch, 2018a) sowie Studien (Storbeck, 2011; American Psychological Association, 2017) machen eine bedenkliche Entwicklung sichtbar. Mitarbeiter sind überfordert, verlieren vor lauter Change-Prozessen die Orientierung, worum es überhaupt noch geht und reagieren mit Stresserkrankungen, Demotivation und verringertem Engagement. Einen umfassenden Überblick aus 60 Jahren Forschung zu den Reaktionen von Beschäftigten auf Change-Prozesse findet sich bei Oreg, Vakola, & Armenakis (2011) bzw. bzw. Oreg, Michel & Todnem (2014).

Wie es Betroffenen gehen kann, zeigen vier Stimmen:

  • „Ich bin morgens zeitweilig nicht aus dem Bett gekommen. Da war so eine richtige Demotivation. Ich bin dann zwar hin und habe meine Arbeit gemacht. Aber es ging mir überhaupt nicht leicht von der Hand. Früher bin ich gerne zur Arbeit gegangen. Aber jetzt konnte ich machen, was ich wollte, die neue Arbeit lag mir einfach nicht.“
  • „Mit den ganzen Umstellungen kam es bei mir so weit, dass ich in meiner Arbeit zusammengebrochen bin. Ich bin in Tränen ausgebrochen. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte ganz schlimme Kopfschmerzen, weil das für meinen Körper zu viel war. Es war eine extreme Überbelastung.“
  • „Warum steckt man mich jetzt in so eine Tätigkeit? Warum darf ich nicht mehr das machen, was eigentlich mein Steckenpferd ist? Anscheinend habe ich meinen Job jahrelang falsch gemacht, sonst würde das ja wohl nicht passieren.“
  • „Die da oben werden schon sehen, was sie davon haben – ist ja nicht meine Firma. Ich kriege ja mein Geld. Früher bin ich noch die Extra-Meile gegangen. Das ist jetzt vorbei.“

Die Wunderwaffen der Personalentwicklung

Und mitten drin im Veränderungsgeschehen steckt die Personalentwicklung. Per Amt ist sie dafür da, Lernen noch besser und schneller zu ermöglichen und die Mitarbeiter möglichst effizient zu „changen“. Hier versprechen die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung ungeahnte Möglichkeiten. „Digitale Lernformate“ und „E-Learning“ lauten die Schlagworte, jederzeit und an jedem Ort lernen das Versprechen. Flächendeckende und schnelle Versorgung mit Lernstoff zu den verschiedensten Themen – sei es Compliance, Arbeitssicherheit, Führung oder Kommunikation. Keiner muss mehr reisen, um dazu zu lernen. Learning Management Systeme ersetzen den Schulungsraum. Das spart Reise- und Ausfallkosten.

Die Art, wie Lernen in den Firmen passiert, verändert sich gerade enorm. Gefragt ist bei diesen neuen Methoden der selbstverantwortlich Lernende – und das aus gutem Grund. Denn der neue Ansatz lautet: Anstatt sich Wissen tonnenweise auf Vorrat in die Hirnzellen zu zwängen, wie das noch bei den klassischen Seminaren der Fall ist, holt sich jeder das Wissen, das er gerade im Moment bei seiner Arbeit benötigt. Es braucht dazu nur einen großen Wissenspool, den die Firma selbst erstellt oder passend bei einem Dienstleister einkauft. Von entscheidender Bedeutung ist natürlich eine laufende Aktualisierung dieses Wissens. Das Zauberwort heißt „Learning on Demand“. Bedarfsgerechter kann Lernen kaum noch werden.

Im Prinzip funktioniert das wie die Informationssuche in einer Suchmaschine. Vielleicht kennen Sie den Werbeclip eines Suchanbieters, in dem zwei junge Männer über ihren Küchentisch gebeugt stehen. Ihr ratloser Blick trifft die glasigen Augen eines toten Fischs. „Google, zeige mir per Video, wie man einen Fisch filetiert“, spricht einer der beiden überdeutlich in sein Smartphone. Sein Kumpel steht mit einem scharfem Messer im Anschlag, schaut konzentriert auf das erste Video und fängt an, den Worten zu folgen: „Direkt am Kopf schneidet man ein…“

Modell der Veränderungsbalance.

Dieser Clip trifft genau ins Herz all jener Menschen, die Lernen einfach und mundgerecht haben wollen. Die Botschaft lautet: Frag einfach Google oder das firmeneigene E-Learning-Lernportal, und Du bekommst genau die Information, die die aktuelle Situation erfordert. Besonders beliebt sind dabei kurze Lernvideos. Eigentlich trockene Materie wird unterhaltsam aufbereitet und verständlich vermittelt. Sofort einsetzbar. Passgenau. Zeitsparend. Ein Wissenshäppchen, das schmeckt.

So gesehen müsste mit den bisherigen und den neuen Methoden der Personalentwicklung doch eigentlich jeder Wandel zu bewältigen sein? Theoretisch schon – wenn es da nicht noch eine Besonderheit unseres Gehirns gäbe, die sich nicht so einfach umprogrammieren lässt.

Im Grunde seines Wesens ist unser Gehirn ganz einfach gestrickt: Es möchte Belohnung maximieren und Bedrohung minimieren. Eis essen – ja! Dafür ewig weit zur Eisdiele gehen – nein! Und so werden alle Signale, die aus dem Umfeld kommen, danach eingeordnet, ob sie in ihrer Bedeutung positiv oder negativ sind. Genauso verhält es sich da auch mit dem Lernstoff, den sich die Mitarbeiter im unternehmensinternen E-Learning-System beschaffen und aneignen könnten. Doch von Begeisterung für die neuen Lernmöglichkeiten ist leider häufig nichts zu bemerken. Stattdessen wirken Selbstlern-Formate auf viele Beschäftigte genauso bedrohlich wie Ringelnattern im Unterholz – sie lösen den Fluchtreflex aus.

Mythos vom selbstverantwortlichen Lerner

Was bei aller Euphorie für die neuen Methoden außerdem gerne übersehen wird, ist, dass die Beschäftigten unterschiedlich lern- und veränderungsstark sind. Zahlen dazu liefert die wohl größte Studie in Deutschland von Graf, Gramß & Heister (2016) an rund 10.000 Beschäftigten. Auf der einen Seite haben die befragten Mitarbeiter verstanden, dass sich die Arbeitswelt rasant verändert und sie sich daher ebenfalls verändern müssen. So gut wie alle Teilnehmenden (98 Prozent) geben an, sich der Bedeutung des Lernens aufgrund sich verändernder Anforderungen bewusst zu sein. Auf der anderen Seite scheitern sie aber bei ihren Lernbemühungen und der Umsetzung. So sehen nur 27 Prozent bei sich eine hohe Transferfähigkeit bzw. nur 23 Prozent ein hohes Durchhaltevermögen. Etwa die Hälfte der Befragten sagt, dass ihnen der Einstieg ins Lernen schwerfällt (49 Prozent) und sie ihr Lernen nur schwer in die Arbeitszeit integrieren können (56 Prozent). Darüber hinaus brauchen 41 Prozent der Befragten Druck von außen, um zu lernen.

Anknüpfend daran macht meine eigene Forschung zum Thema Transferstärke deutlich, warum die Umsetzung von Lern- und Veränderungsimpulsen so oft scheitert. In mein wissenschaftlich entwickeltes Transferstärke-Modell fließen 18 empirisch fundierte Konzepte zu Selbstveränderung und Lerntransfer ein. Es fasst die erforderlichen Einstellungen und Selbststeuerungsfertigkeiten zusammen, die für die erfolgreiche und nachhaltige Umsetzung von Lern- und Veränderungsimpulsen nötig sind. Nach bisherigen Analysen an rund 4.000 Probanden haben 80 Prozent der Beschäftigten mehr oder weniger starke Transferschwächen. Besonders schwer fällt es den meisten, den Rückfall in alte Verhaltensmuster im Tagesgeschäft zu vermeiden (Koch 2018b).

Diese Zahlen machen deutlich, dass nicht jeder Mitarbeiter ein guter selbstverantwortlicher Lerner ist oder eben gut Veränderungsimpulse in die Praxis umsetzt. Das bedeutet, dass diese Mitarbeiter eigentlich gezielte Hilfe und Unterstützung bräuchten, um Lernziele auch sicher zu erreichen.

Modell der Veränderungsbalance

Die Gefahr ist groß, dass die Vielzahl von Veränderungsinitiativen in den Firmen die Veränderungskapazität der Mitarbeiter überfordern. Vor diesem Hintergrund hilft das Modell der Veränderungsbalance (Koch, 2018a, siehe Abbildung) dabei, dass Personalentwickler und mit ihnen die Führungskräfte im Unternehmen mal genauer unter die Lupe nehmen, ob die ganzen Änderungsanforderungen für die Mitarbeiter überhaupt zu schaffen sind. Das Modell stellt die Zusammenhänge zwischen den beiden Einflussfaktoren Veränderungstempo und Veränderungsausmaß dar und zeigt auf, unter welchen Bedingungen Change psychisch und körperlich krankmacht.

Das Veränderungstempo (senkrechte Achse) beschreibt die Häufigkeit von Veränderungen, die ein Mitarbeiter erlebt. Das Veränderungsausmaß (waagerechte Achse) gibt an, wie grundlegend jemand aufgrund neuer Tätigkeiten und Anforderungen umdenken oder sein Verhalten verändern muss.

Die graue Warnzone markiert den Bereich, in dem viele spüren, dass es ihnen zu viel wird. Diese Warnzone lässt sich mit einem Strand am Meer vergleichen. Hat man erst einen Zeh im Wasser, steht man schon mit dem ganzen Fuß darin oder reicht das Wasser bereits bis übers Knie? Oft passiert es, dass Betroffene solche Warnsignale unterschätzen oder ignorieren, obwohl sich bereits psychische oder körperliche Symptome zeigen – sogenannte Anpassungsstörungen wie etwa Verspannungen, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten oder erhöhte Reizbarkeit.

Jeder Mensch hat eine individuelle Grenze (gestrichelte Linie), an der das Veränderungstempo bzw. das -ausmaß oder beides zusammen in einen kritischen Bereich abdriftet. Um im Bild zu bleiben: Dem Mitarbeiter steht das Wasser dann bis zum Hals.

Die vier Felder haben jeweils spezifische Bedeutungen:

  • Veränderungsbalance: Psychologisch gesehen ist dies der Idealzustand; Veränderungstempo und -ausmaß bewegen sich auf einem individuell angemessenen Level. Die Mitarbeiter können die Anpassungsanforderungen, die ihnen begegnen, meistern. Es geht ihnen gut dabei.
  • Erschöpfung: Die Mitarbeiter sind grundsätzlich in der Lage, sich das notwendige Wissen oder die zusätzlichen Fertigkeiten anzueignen, die Anforderungen entsprechen also ihrem Potenzial. Die zur Verfügung stehende Zeit reicht jedoch nicht aus. Ihnen wird zu viel auf einmal zugemutet oder ihre Vorgesetzten haben zu hohe Erwartungen. Das geforderte Anpassungstempo erzeugt Stress, der früher oder später zu Erschöpfung oder gar zu einem Kollaps führt. Letztlich verlieren Mitarbeiter dadurch die Motivation und die Kraft, sich überhaupt auf Veränderungen einzulassen.
  • Nicht mein Ding: Hier soll der Mitarbeiter eine Anpassungsleistung erbringen, die seine Fähigkeiten übersteigt. Obwohl das Veränderungstempo angemessen und Zeit für Schulungen und anschließendes Ausprobieren vorhanden ist, kommt der Mitarbeiter nicht auf ein angemessenes Leistungsniveau. Er hat das Gefühl, dass die Tätigkeit nicht zu ihm passt. Beispiel: Wer es bisher kaum mit der Stirn bis zur Stange schaffte, trainiert Klimmzüge nicht gern. Es macht einfach keinen Spaß. Wenn Mitarbeiter trotz Anstrengung und grundsätzlicher Veränderungsbereitschaft nicht richtig vorwärtskommen, entstehen Selbstzweifel und ihre Motivation sinkt. Falls die neuen Tätigkeiten gegen ihre Werte und Einstellungen verstoßen, kommt außerdem noch das Gefühl hinzu, sich verbiegen zu müssen.
  • Selbstvergewaltigung: Der Mitarbeiter ist in jeder Hinsicht von den Veränderungsprozessen überfordert. Er soll in viel zu kurzer Zeit Verhaltensweisen und Fertigkeiten lernen, die ihm nicht liegen oder sogar innerlich gegen den Strich gehen. Diesen Zustand kann eigentlich niemand unbeschadet lange aushalten, da der innere Konflikt zu groß ist. Stresserkrankungen bzw. Anpassungsstörungen sind die Folge – möglicherweise in fortgeschrittener Ausprägung. Wenn die Vorgesetzten dann weiteren Druck aufbauen, damit der ohnehin bereits überlastete Mitarbeiter endlich die gewünschte Performance zeigt, ist die Grenze zum Unerträglichen erreicht.

Change-Diät: Fokussierung und Maß halten

Die Konsequenz aus allem bisher Gesagten ist Change-Diät statt Change-Aktionismus. Change-Diät bedeutet, Maß zu halten, damit die Mitarbeiter in einer gesunden Veränderungs-Balance bleiben und wahre Veränderung erreicht wird. Diese Botschaft ist sicherlich eine genauso bittere Pille, als wenn ein Abnehmwilliger auf der Packung eines Diätmittelhersteller lesen würde: Braucht Zeit, Jo-Jo Effekte zu erwarten, ist schwer.

Doch, was ist die Alternative. Nur weil ich will, dass jemand schnell neues Wissen lernt oder sich schnell verändert, passiert es noch lange nicht. Die Gesetze der Psychologie sind hier genauso bindend, wie die Gesetze der Schwerkraft.

Change-Diät bedeutet daher die Fokussierung auf erfolgskritische Lern- und Veränderungsschritte. Was ist der eine nächste Schritt, der zwingend ist und in die richtige Richtung geht. Es gilt also auszuwählen, anstatt eine große Zahl Themen gleichzeitig zu initiieren und sehr viel auf einmal zu wollen.

Und da Veränderung am Ende immer die persönliche Entscheidung des Einzelnen ist – was er nämlich bereit ist, wirklich zu lernen und zu verändern – ist es so wichtig, den einzelnen Mitarbeiter in den Mittelpunkt der Betrachtung zu nehmen. Ihn gilt es zu fragen, was er in welcher Menge, in welchem Tempo umsetzen will und kann und was er speziell an Unterstützung und Lernmedien braucht, um es erfolgreich und nachhaltig zu tun.

Die Devise heißt also: Weniger ist mehr. Dafür aber richtig.


Der Autor

Prof. Dr. Axel Koch
Bildungsexperte

geboren 1967, ist Professor für Training und Coaching an der Hochschule für angewandtes Management in Ismaning. Er ist promovierter Diplom-Psychologe und arbeitet selbst seit über 20 Jahren als Trainer und Personalentwickler. In dieser Funktion hat er tiefe Einblicke in zahlreiche Unternehmen und die gängige Praxis von Change-Prozessen gewonnen. Seinen ersten Wirtschaftsbestseller „Die Weiterbildungslüge“ veröffentlichte er 2008 unter dem Pseudonym Richard Gris. In seinem neusten Wirtschaftsbestseller „Change mich am Arsch“ befasst er sich mit dem zunehmenden Veränderungstempo in den Firmen und den Auswirkungen auf die Mitarbeiter.

Mehr unter:
www.change-mich-am-arsch.com


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Prof. Dr. Axel Koch

Professor für Training & Coaching

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