Exklusiv-Interview – Charles, was ist das 70:20:10-Modell?

„Das 70:20:10-Modell ist ein Rahmen oder ein Referenzmodell, das dazu dient, die Unterstützung für das Lernen und die Leistungsverbesserung über formale Ausbildungs- und Entwicklungsaktivitäten hinaus zu erweitern.“ – Charles Jennings

Inmitten des Stroms der digitalisierten Arbeitswelt, die sich auch vor dem Hintergrund der digitalen Transformation der betrieblichen Bildung kontinuierlich wandelt, erweist sich das 70:20:10-Modell von Charles Jennings als unverzichtbarer Kompass für die betriebliche Bildung. Lebenslanges Lernen und die kontinuierliche Kompetenzentwicklung und -erweiterung gehören mittlerweile zum täglichen Brot von Fach- und Führungskräften, um mit dem permanenten Wandel mithalten zu können. Doch wie verweben sich die Fäden des Lernens und Arbeitens? Wie können wir die Synergie zwischen diesen beiden stärken und dafür nutzen, lebenslanges Lernen noch müheloser in unseren Alltag unterzubringen? Das 70:20:10-Modell von Charles Jennings trifft eindeutige Aussagen darüber, wie und wovon wir lernen. Und thematisiert, wie wir formales und soziales Lernen sowie das Lernen durch die Arbeit effektiv kombinieren können.

Im Rahmen unserer neuen digitalen Eventreihe, dem eLearning SUMMIT Campus, dessen Premiere im Herbst 2023 stattfinden wird, werden wir Charles Jennings als internationalen Experten und Keynote-Speaker in unserer MasterClass zum Handlungsfeld „Lernkultur“ begrüßen. Vorab stand er der Redaktion des eLearning Journals für ein Exklusiv-Interview zur Verfügung. Darin gab er uns unter anderem wertvolle Einblicke, worauf es bei der Implementierung des 70:20:10-Modells in Unternehmen wirklich ankommt und wie es dabei unterstützen kann, effektiv und langfristig die Lernkultur zu optimieren.

eLearning Journal: Hallo Charles, danke dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Magst du dich zum Start einmal vorstellen?

Charles Jennings: Mein Name ist Charles Jennings. Ich bin Mitbegründer des 70:20:10 Instituts. Ich arbeite seit 40-45 Jahren im Bereich Lernen und Leistung, zunächst als akademischer Forscher, dann als Universitätsprofessor, aber in den letzten 25 Jahren habe ich im Business-Bereich gearbeitet.

eLearning Journal: Du hast erwähnt, dass du ein Mitbegründer des 70:20:10 Instituts bist und maßgeblich an der Entwicklung des 70:20:10-Modells beteiligt warst. Kannst du beschreiben, was dieses Modell ist?

Charles Jennings: Ja, das 70:20:10-Modell ist ein Rahmen oder ein Referenzmodell, das dazu dient, die Unterstützung für das Lernen und die Leistungsverbesserung über formale Ausbildungs- und Entwicklungsaktivitäten hinaus zu erweitern. Die 70 bezieht sich auf das Lernen während der Arbeit. Die 20 beziehen sich auf das Lernen von und mit anderen Menschen, also das soziale Lernen und die 10 auf das strukturierte formale Lernen. Und die 10 ist das, woran die meisten von uns denken, wenn wir von „Lernen“ sprechen. Aber die 10 ist eigentlich nur ein Teil des gesamten Lern-Ökosystems.

Bei 70:20:10 geht es also darum, Einzelpersonen, Teams und Organisationen dabei zu helfen, die gewünschten Ergebnisse zu erzielen, indem sie insbesondere das Lernen auf der Arbeit und das Lernen von anderen besser nutzen. Und es ist keine neue Phase der traditionellen Ausbildung. Es ist nicht das, was ich eine Interventionsmatrix nennen würde. Viele Leute denken, dass sie 70:20:10 in ihren Kursen anwenden können. Nun, wenn man einen Kurs oder ein Programm gut gestaltet, sollte man auch soziales Lernen und Erfahrungslernen und so weiter einsetzen. Es handelt sich auch nicht um eine Lerntheorie, und interessanterweise ist es kein festgelegtes Verhältnis.

Ich habe im Laufe der Jahre viele Gespräche mit Leuten geführt, die sagten: „Oh, zeig mir den Beweis, dass genau 70 Prozent in der Praxis gelernt wird und genau 20 Prozent von anderen Leuten und genau 10 Prozent aus dem formellen Lernen.“ Das ist nicht der Punkt. Sogar die ursprüngliche Forschung war nicht genau 70:20:10, aber es wurde als eine einfache Art und Weise geschaffen, um auszudrücken, dass das meiste Lernen, etwa 90%, durch Arbeit, durch Erfahrung, durch Praxis, durch Reflexion, durch die Arbeit mit anderen Menschen geschieht. Das ist also der Kern dessen, was 70:20:10 ist. Es geht nicht um die Zahlen an sich, es geht eher darum, wie wir formales Lernen, soziales Lernen und das Lernen durch Arbeit kombinieren.

eLearning Journal: Was sind die Hauptvorteile des 70:20:10-Modell, im Vergleich zu den eher traditionellen Modellen wie L&D und Kompetenzentwicklung?

Charles Jennings: 70:20:10 ermöglicht es uns, über traditionelle Ansätze hinauszugehen, da es formales, soziales und Lernen am Arbeitsplatz miteinander kombiniert. Es erlaubt uns, uns auch auf andere Aspekte und nicht nur auf die formal strukturierten Programme zu konzentrieren. Das ist einer der Hauptunterschiede zur traditionellen Kompetenzentwicklung in Unternehmen. Der zweite Punkt ist, dass 70:20:10 uns erlaubt, uns sowohl auf die individuelle Entwicklung als auch auf die Verbesserung der Organisation zu konzentrieren. Und das ist für mich ein wesentlicher Vorteil dieses Ansatzes, weil wir uns nicht nur auf die Entwicklung von Menschen konzentrieren, sondern auf die Entwicklung von Teams und unserer Organisationen als Ganzes. Es hilft uns also, uns zu öffnen und eine – wie ich es nenne – ganzheitliche Sichtweise auf die Kraft, die Lernen in unserem Unternehmen hat, einzunehmen und zu verbessern.

2015 gründete Charles Jennings zusammen mit Vivian Heijnen und Jos Arets das „70:20:10 Institute“, welches es sich zur Aufgabe macht, Organisationen dabei zu unterstützen, das Potential des vom Institut entwickelten wertorientierten L&D-Ansatz, die leistungsorientierte Lernmethodik und den 70:20:10-Rahmen für den Aufbau einer hohen Leistungsfähigkeit zu nutzen.

eLearning Journal: Wie können Unternehmen das 70:20:10 Framework erfolgreich umsetzen? Gibt es dort typische „Do‘s“ oder „Don‘ts“ in diesem Bereich?

Charles Jennings: Nun, es gibt viele „Do‘s“ und viele „Don‘ts“ für das 70:20:10-Modell. Wenn ich mit den Do‘s beginnen darf, empfehle ich den Fachkräften immer, 70:20:10 in ihre Lern- und Entwicklungsprozesse zu integrieren. Wenn Sie also Lösungen entwerfen, dann denken Sie nicht nur darüber nach, was wir tun können, welchen Kurs wir entwickeln können oder welches eLearning wir entwickeln können. Sondern denken Sie darüber nach, wie Sie eine Lösung entwerfen können, die Wirkung zeigt, und bei der die Anwendung der 70:20:10-Methode möglich ist. Das Wichtigste ist, dass man immer mit der 70 beginnt. Mit anderen Worten: Lösungen, die in den Arbeitsplatz eingebettet sind, sind mit größerer Wahrscheinlichkeit wirksamer als Lösungen, die außerhalb des Arbeitsplatzes liegen. Und das wissen wir schon seit vielen Jahren.

Tatsächlich haben zwei bedeutende Psychologen namens Thorndike und Woodworth bereits 1901, also vor 122 Jahren, Forschungen durchgeführt und das sogenannte Prinzip der identischen Elemente entwickelt. In anderen Worten, je näher die Umgebung ist, desto mehr Elemente in der Umgebung, in der du etwas lernst, entsprechen denen, wo du es tatsächlich ausführen musst. Je effektiver wird dieses Lernen wahrscheinlich sein, da das gesamte Transferproblem beseitigt wird. Als Erstes „Do“ sollten Sie das Ganze also ganzheitlich betrachten und mit der 70 beginnen. Beginnen Sie nicht, wie ich bereits erwähnt habe, mit dem gesamten 70:20:10-Modell. Die Leute machen diesen Fehler. Sie denken, dass sie ihre Schulungs- und Entwicklungskurse und -programme einfach hinzufügen und anpassen können, damit sie mit 70:20:10 übereinstimmen, und das würden wir als 10-Plus bezeichnen, dass ist es ein gutes formales Lerndesign ist. Das ist großartig. Aber denken Sie nicht, dass 70:20:10 das ist, denn das ist es nicht. Und ich würde auch sagen, denken Sie nicht an 70:20:10 als Prozentsätze oder verschiedene Arten von „buckets“. Betrachten wir es als einen konsolidierten, mehrstufigen Ansatz, um einen Schritt zurückzutreten und darüber nachzudenken, wie wir unseren Mitarbeitern und unseren Organisationen helfen können, Dinge besser zu machen und auf einen Weg der kontinuierlichen Verbesserung zu gelangen. Ich denke, das ist die wirkliche Kernaussage der Nutzung von 70:20:10.

eLearning Journal: Ich finde es witzig, dass diese „10-Plus“ zeigen, wie schwer es ist, sich von seinen Prozessen, seinem Standard, den man über Jahrzehnte entwickelt hat, zu lösen.

Charles Jennings: Das liegt daran, dass wir denken, dass Lernen gleichbedeutend mit Schulbildung ist. Und das ist ganz natürlich, denn wir haben alle die Schule, weiterführende Schule oder die Universität durchlaufen. Wenn wir also über Lernen sprechen, denken wir eher an Schule. Und das gilt nicht nur für uns in unserem Beruf, sondern auch für alle unsere Führungskräfte und Manager. Es ist also fast wie eine Kurzschlussreaktion, wenn wir sehen, dass etwas getan werden muss. Wir denken, dass wir hier Hilfe brauchen, wir denken an die Schule. Und eines der wichtigsten Dinge an 70:20:10 ist, dass es uns hilft, die Denkweise zu trennen, dass Lernen gleichbedeutend mit Schulbildung ist. Es hilft uns zu verstehen, dass Schulbildung ein Teil des Lernens ist, aber es gibt noch viele andere Dinge, die wir tun können.

eLearning Journal: In unserer MasterClass „Lernkultur“ am 3. November hältst du einen Keynote-Vortrag. Welche Rolle spielt deiner Meinung nach die Lernkultur bei der Umsetzung des 70:20:10-Modells?

Charles Jennings: Die Unternehmenskultur ist entscheidend. Tatsächlich ist sie sogar wichtiger als die nationale Kultur. Und wenn wir das in multinationalen Unternehmen sehen, dann sehen wir, dass die Kultur dieses Unternehmens über die Grenzen der Nationen hinausgeht, und wir sehen, dass sie in die Art und Weise eingebettet ist, wie wir Dinge innerhalb unserer Organisationen tun. Und ich denke, dass die Organisationskultur das Ergebnis der schlechtesten Verhaltensweisen ist, die die Führung zulässt. Und die besten Verhaltensweisen sind das Ergebnis des besten Verhaltens, das die Führung zeigt. Wenn man sich also Kultur als diese beiden Dinge vorstellt, das schlimmste Verhalten, das die Führung zulässt, und das beste Verhalten, das die Führung an den Tag legt, dann bekommen wir eine Vorstellung davon, worum es bei Kultur geht. Und 70:20:10 passt, denke ich, sehr gut dazu, weil wir innerhalb der Kultur der Organisation arbeiten müssen. Und wenn wir eine Kultur des Lernens in einer Kultur der kontinuierlichen Verbesserung schaffen wollen, müssen wir wirklich verstehen, was diese Kultur in unseren Organisationen ist. Das bedeutet also, dass 70:20:10 formbar ist. Sie kann für verschiedene Organisationen angepasst werden. Es gibt keine perfekte Lösung vom Typ 70:20:10, die man von einer Organisation übernehmen und in eine andere einführen kann. Und wir können hoffen, dass es genau so funktioniert. Das wird es nicht. Es ist wie bei vielen anderen Dingen. Es ist alles kontextspezifisch. Meiner Erfahrung nach sind sich Organisationen, die mit 70:20:10 wirklich gut zurechtkommen, dessen bewusst, und sie denken über ihre eigene Organisations- und Unternehmenskultur nach, und sie passen es daran an. Oder sie nutzen 70:20:10, um die Organisation oder die Unternehmenskultur anzupassen, um die Möglichkeiten für Lernen, Entwicklung und Veränderung zu verbessern.

eLearning Journal: Du hast gerade betont, wie wichtig die Unternehmenskultur und die Lernkultur ist. Kann man deiner Meinung nach die Kultur anpassen oder optimieren, und wenn ja, wie?

Charles Jennings: Die Antwort darauf muss „Ja“ lauten. Natürlich kann man sie optimieren und verändern, aber Kultur beginnt an der Spitze. Die kritischen Veränderungspunkte liegen also meist in der Verantwortung der Führung. Die Verantwortlichen für Lernen und Entwicklung müssen also sehr eng mit ihren Führungsteams zusammenarbeiten, um ihnen zu helfen, zu verstehen, was sie tun müssen, um die Entwicklung einer Lernkultur zu fördern und das beste Umfeld dafür zu schaffen, damit die Lernkultur von der Spitze des Unternehmens ausgeht. Und es ist wie bei vielen Dingen in Organisationen, wenn die Spitze der Organisation das Beste zeigt, was die Organisation sein kann, und das Beste von allen erwartet, dann wird das zu einer sehr positiven Kultur. Wenn man hingegen eine Kultur hat, in der die psychologische Sicherheit sehr gering ist, ist es sehr, sehr schwierig, einen Ansatz wie 70:20:10 zu verankern. Ich sage oft, dass psychologische Sicherheit das Fundament der Kultur ist, und es ist ein Fundament, um eine Lernkultur effektiv zu entwickeln.

eLearning Journal: Im Rahmen von 70:20:10 sprichst du auch viel über wertebasiertes L&D. Kannst du in deinen Worten erklären, was wertebasiertes L&D ist?

Charles Jennings: 70:20:10 ist das, was wir leistungsorientiertes Lernen nennen. Dabei geht es darum, wie wir Lernlösungen auf der Grundlage von Leistung entwickeln und sicherstellen können, dass wir die richtigen Leistungsergebnisse erzielen. Darüber steht das wertorientierte Lernen. Bei diesem Ansatz für das Lernen und die Entwicklung von Unternehmen geht es in erster Linie um die Schaffung von Nutzen. Sie sind also sehr eng miteinander verknüpft, und die Methodik basiert auf den Archetypen für L&D-Geschäftsmodelle, die mein Kollege am Institut, Jos Arets, ein Niederländer, entwickelt und ausführlich beschrieben hat.

Der Archetyp sieht Lernen und Entwicklung als Auftragsnehmer, bei dem wir einfach Aufträge von unseren Stakeholdern erhalten und dann unser E-Learning oder Programme oder was auch immer entwerfen und entwickeln. Es gibt einen „Lernbefähiger“, bei dem wir anspruchsvollere, evidenzbasierte Karriere-Lernpfade entwickeln, aber wir denken immer noch mit unserer Lernmentalität und den anderen beiden Archetypen, den Geschäftsmodell-Archetypen im wertorientierten L&D-Modell, Leistungsaktivator und Wertschöpfer. Und das ist der Punkt, an dem wir anfangen, mehr und mehr über Leistungsergebnisse als über Lernergebnisse nachzudenken. Wir denken also darüber nach, wie wir Leistung ermöglichen können, und wie wir als L&D-Organisation den Wert für unsere Organisation wirklich demonstrieren können, was wir natürlich tun wollen. Wir wollen kein Callcenter sein, wir wollen Werte-Schaffer sein.

Bei L&D geht es also um die Reise, die Organisationen unternehmen können. Und es ist nicht so, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Viele, viele Organisationen werden hauptsächlich in einem oder zwei dieser Geschäftsmodelle arbeiten. Beispielsweise müssen wir alle wissen, dass wir gelegentlich als Auftragsnehmer agieren müssen. Sie wissen schon, wir haben Compliance- und Regulierungsanforderungen und das muss einfach erledigt werden. Wir müssen das effizient und effektiv tun. Aber wenn wir einfach unsere gesamte Zeit für die Einhaltung von Vorschriften und gesetzlichen Bestimmungen für L&D aufwenden, wird das keinen Mehrwert schaffen. Es wird einen gewissen Wert schaffen, aber es wird nicht den Wert schaffen, den wir schaffen können. Darum geht es also bei wertebasiertem L&D.

eLearning Journal: Es scheint, dass die Auftragsannahme und der Fokus auf operativen Notwendigkeiten oft das strategische und wertorientierte Denken überwiegen, zumindest nach meiner Erfahrung hier in Deutschland.

Charles Jennings: Und das ist auch meine Erfahrung auf der ganzen Welt. Die meisten L&D-Fachkräfte und L&D-Teams werden fast in diese Rolle gedrängt, weil sie ihre Führungskräfte nicht ausgebildet haben, wie ich bereits erwähnt habe. Sie haben sie nicht ausreichend über den Unterschied zwischen schulischem und betrieblichem Lernen unterrichtet und sie dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie L&D ihrer Organisation und ihren Teams einen Mehrwert bieten können. Und ich denke, eines der Dinge, über die ich im November sprechen werde, ist die Idee, dass wir uns immer noch sehr auf Einzelpersonen in Organisationen konzentrieren, während die atomare Einheit in unseren Organisationen eigentlich Teams sind. Wenn man mit leitenden Angestellten spricht, sind sie an der Expertise interessiert, die ihre Teams einbringen können, um Probleme zu lösen und das zu liefern, was sie liefern müssen. Natürlich bestehen diese Teams aus Einzelpersonen, aber diese Trennung zwischen Individuum und Team ist wirklich wichtig. Ich glaube, dass viele Lern- und Entwicklungsteams damit zu kämpfen haben, weil sie sich auf Einzelpersonen konzentrieren, während die Führungskräfte sich auf die Ergebnisse der Teams und ihrer Geschäftsbereiche usw. konzentrieren. Und diese beiden Bereiche miteinander zu verknüpfen, ist eine echte Herausforderung.

eLearning Journal: Ich denke, das ist eine schöne Überleitung zu meinem letzten Thema, unserem SUMMIT Campus im Herbst, wo du eine Keynote halten wirst, die sich vor allem mit dem Thema „Corporate Learning Ecosystems“ in der DACH-Region beschäftigt. Das ist ein sehr neuer Ansatz, der noch nicht sehr bekannt ist. Um mit deiner Erfahrung zu beginnen, wie kann man deiner Meinung nach die betriebliche Lernkultur definieren? Und gibt es zentrale Merkmale, die typisch für ein „Corporate Learning Ecosystem“ sind?

Charles Jennings: Es ist nicht nur in der DACH-Region, dass Corporate Learning Ecosystems nicht gut verstanden wird. Ich denke, es ist ein globales Problem. Ich denke, dass ein großer Teil des Lernens und der Entwicklung immer noch sehr technisch und sehr inhaltsorientiert ist. Was ich oft als inhaltsreich, aber erfahrungsarm bezeichne, ist schlechtes Lernen, weil das die Art und Weise ist, wie Schule gemacht wurde, wissen Sie, natürlich nicht alle Schulen, aber Sie wissen, dass das die Herausforderung ist, die wir haben. Ich definiere ein Corporate Learning Ecosystem als ein System, mit dem wir sicherstellen können, dass unsere Organisation schneller lernt als die Veränderungen, denen sie ausgesetzt ist. Wenn das Lerntempo das Tempo der Veränderungen übersteigt, werden wir wahrscheinlich erfolgreich sein. Die Lerngeschwindigkeit in unseren Organisationen ist geringer als die Veränderungsgeschwindigkeit, mit der wir konfrontiert sind, egal ob es sich um interne Veränderungen oder externe Veränderungen oder beides handelt. Unsere Organisationen werden nicht erfolgreich sein.

Lern-Ökosysteme schaffen also die richtigen Lösungen, um sicherzustellen, dass das Lernen in unserer Organisation schneller vonstattengeht als der Wandel, denn sonst werden unsere Organisationen wirklich nicht erfolgreich sein. Und für mich geht es bei Lern-Ökosystemen nicht nur darum, Menschen einzubeziehen. Und ich denke, dass das entscheidend ist. Wenn wir über Lernen sprechen, reden wir sehr oft über Menschen. Aber eigentlich ist Lernen ein eher systematischer Prozess. Für mich gehören zu einem Lernökosystem: Prozesse, Kultur, Strategie, Technologie und Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Organisationen. Wir müssen das Lernen also ganzheitlich betrachten. Und ich denke, dass Lern-Ökosysteme ein wirklich guter Begriff ist, denn es ist wie unser globales Ökosystem.

Wissen Sie, es gibt viele, viele verschiedene Faktoren, die uns beeinflussen, und wir können nicht nur eine Sache, ein Element herausnehmen. Ich denke zum Beispiel, dass es eine der größten Herausforderungen ist, nur die Fähigkeiten zu betrachten. Tatsächlich habe ich vor kurzem mit jemandem gesprochen, die viele Jahre mit Burson gearbeitet hat und viele Jahre bei Deloitte angestellt war, und sie sagte, dass sie jetzt in einem Forschungsunternehmen arbeitet und das eines der Probleme, die sie festgestellt haben, darin besteht, dass viele Organisationen nur auf die Fähigkeiten schauen. Sie betrachten die Fähigkeiten nicht im Zusammenhang mit all den anderen Dingen, die sie in diesem Ökosystem umgeben. Sie ist der Meinung, dass Unternehmen, die sich nur auf die Aus- und Weiterbildung konzentrieren, niemals erfolgreich sein werden, weil es bei der Erbringung von Spitzenleistungen nicht nur um die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitarbeiter geht. Es geht auch um die richtigen Werkzeuge, die richtigen Prozesse, die richtige Motivation, die richtige Führung und all diese Dinge zusammen. Es reicht also nicht aus, nur einen Aspekt zu betrachten, um ans Ziel zu kommen.

eLearning Journal: Was sind die Hauptvorteile eines Corporate Learning Ecosystems für ein Unternehmen? Warum sollte ein Unternehmen in diesen Begriffen denken?

Charles Jennings: Wenn wir das Lernen nicht als Teil eines größeren Systems in einer systemischen Art und Weise angehen, dann werden wir niemals einen Wert für unsere Organisationen schaffen. Und das ist eine der Herausforderungen, mit denen die Verantwortlichen für Lernen und Entwicklung seit vielen, vielen Jahren zu kämpfen haben. Sie wissen schon, wie schaffen wir Wert, wie zeigen wir Wert? Die Antwort lautet: Wir müssen das Lernen als Teil des Systems betrachten. Wir müssen es auf diese Weise betrachten. Unsere Organisation als Ökosystem zu betrachten, ist ein wirklich guter Weg, um diese Dinge anzugehen. Wenn wir das tun, können wir verstehen, dass es beim Lernen nicht nur um Fortbildung und Umschulung geht. Beim Lernen geht es um unseren Job, darum, wie wir diese neuen Praktiken, diese neuen Fähigkeiten, dieses neue Fachwissen in das Umfeld unserer Organisationen einbetten und sicherstellen, dass sie alle zusammenpassen. Und wir bewegen uns in dieselbe Richtung. Ich denke, die Trennung zwischen Lernen und Leistung ist etwas, mit dem wir uns wirklich auseinandersetzen müssen, denn viele Organisationen und viele Lernleiter sehen ihre Aufgabe in erster Linie darin, das Lernen zu verbessern. Aber natürlich ist das ein Teil des Prozesses, ein Teil des Puzzlespiels. Aber eigentlich habe ich immer gesagt, als ich Chief Learning Officer bei Reuters war, dem großen Informationsunternehmen für fast ein Jahrzehnt, dass ich, obwohl mein Titel Chief Learning Officer lautete, viel mehr an Leistung als an Lernen interessiert war und mich darauf konzentrierte. Mit anderen Worten, ich war eher an den Ergebnissen des Lernens interessiert und anderen Faktoren, als am Lernen selbst. Und ich denke, das ist für mich der Grund, warum wir dieses ganze Thema der Corporate Learning Ecosystem in Unternehmen in einer breiteren Perspektive betrachten sollten. Denn wenn wir das tun, haben wir viel mehr Aussicht auf Erfolg.

eLearning Journal: Und zum Abschluss: Warum sollten unsere Leser:innen deine Keynote am 3. November auf keinen Fall verpassen?

Charles Jennings: Warum sollte man meine Keynote am 3. November auf keinen Fall verpassen? Ich denke, die Arbeit, die ich in den letzten 40 Jahren oder mehr geleistet habe, wird hoffentlich einige neue Denkansätze und neue Praktiken hervorbringen, die den Menschen helfen werden. Ich denke oft an die Worte eines Mannes namens Aldous Huxley zurück. Aldous Huxley war ein britischer Autor, der ein wunderbares Buch namens „Brave New World“ geschrieben hat. Er schrieb es im Jahr 1931. Das ist also 92 Jahre her. In „Brave New World“ ging es um die Gefahren, die entstehen, wenn Regierungen die Kontrolle über mächtige Technologien erhalten. Aber Huxley hat einmal etwas gesagt, das mir seit vielen Jahren im Gedächtnis geblieben ist. Huxley sagte: „Ich sehe das Beste, aber es ist das Schlimmste, das ich verfolge.“

Mit anderen Worten: Ich weiß, was ich tun sollte, um die besten Ergebnisse zu erzielen, aber ich mache trotzdem weiter mit Dingen, die ich schon immer getan habe. Und so hoffe ich, dass meine Keynote den Menschen helfen wird, ihr Bestes zu tun, nicht nur das Beste zu sehen und das Schlechteste zu verfolgen, sondern tatsächlich das Beste zu tun, um ihren Organisationen zu helfen, eine Kultur des Lernens und der kontinuierlichen Verbesserung zu schaffen und zu leben. Und für mich ist das wirklich der Kern meiner Arbeit. Ich denke, es geht darum, Menschen zu ermutigen und Organisationen dabei zu helfen, die Art und Weise, wie sie an das Lernen herangehen, zu überdenken, und zwar auf eine Art und Weise, die wirklich auf organisatorische Ergebnisse ausgerichtet ist. Und wenn wir uns darauf konzentrieren, gute organisatorische Ergebnisse zu erzielen, und das werden wir, werden wir erfolgreich sein.

Ein deutscher Wissenschaftler namens Michael Richter hat sich intensiv mit dem Thema Engagement beschäftigt und eine Metastudie zum Thema Engagement veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass leistungsstarke Organisationen und Menschen oder leistungsstarke Menschen sich eher engagieren, aber dass engagierte Menschen nicht unbedingt auch leistungsfähiger sind. Darüber werde ich in meinem Vortrag am 3. November sprechen, weil ich denke, dass ein großer Teil des Fokus wieder darauf liegt, dass ich das Beste sehe, aber wie immer verfolge ich, dass sich viele Leute auf die Verbesserung des Engagements konzentrieren. Und das ist natürlich gut, weil es die Mitarbeiterbindung erhöht und die Menschen glücklicher und gesünder macht. Aber wenn wir eine hohe Leistung erbringen wollen, müssen wir auf der anderen Seite ansetzen und sicherstellen, dass wir die richtigen Dinge tun, um die Leistung zu verbessern, und dann wird ein höheres Engagement folgen.

Ich werde also über Aspekte und Forschungsansätze zu diesen Themen sprechen und hoffe, dass dies den Teilnehmern am 3. November helfen wird, ihre Prozesse und die Art und Weise, wie sie ihren Organisationen zu besseren Leistungen verhelfen, neu zu überdenken.

eLearning Journal: Nochmals vielen Dank, Charles, dass du dir die Zeit für unser Interview genommen haben. Es sind sehr interessante Themen, die du angesprochen hast, und wir freuen uns schon sehr auf deine Keynote am 3. November und zu hören, was du uns mitbringen wirst.

Charles Jennings: Vielen Dank, ich freue mich auch schon sehr darauf.


Profil:

Charles Jennings

Charles Jennings leitet seit über 40 Jahren Learning- und Performance-Projekte in multinationalen Organisationen. Er gilt als Pionier des 70:20:10-Modells und begleitet seit fast 20 Jahren Unternehmen und Organisationen bei der Einführung von Lösungsansätzen, die auf der Anwendung der 70:20:10-Grundsätze und -Prinzipien basieren.