Seit 50 Jahren bietet das Münchner Bildungsforum einen überbetrieblichen Erfahrungsaustausch zu Trends und Entwicklungen der betrieblichen Bildung. Im Rahmen des Jubiläums wird der diesjährige Bildungsgipfels einen großen Sprung in die Zukunft machen und sich mit der Frage beschäftigen, wie Learning & Development im 2044 aussehen könnte. Um sich dieser Frage anzunähern, werden in sogenannten Zukunftslabs zentrale Aspekte der Zukunftsvision diskutiert und über die zweitätige Veranstaltung konkrete Prinzipien und Handlungsempfehlungen in einem Manifest gesammelt. Vorab stand uns Vorstandsmitglied Dr. Kai Liebert für ein ausführliches Interview zur Verfügung.
eLearning Journal: Guten Tag Herr Dr. Liebert. Können Sie sich zunächst kurz vorstellen?
Dr. Kai Liebert: Klar, gerne. Ich bin seit vielen Jahren im Bereich Corporate Learning und Training unterwegs. Schon in meinem Studium habe ich mich mit Computerbasierten Lernsystemen (ja, so hieß das damals) intensiv beschäftigt und auch meine Promotion zu diesem Thema geschrieben. Danach habe ich Lernen in Hi-Tech-Unternehmen sowohl von der Kunden- als auch von der Mitarbeiter:innenseite von vielen Perspektiven kennengelernt. Letztlich war ich dann bis 2019 der Leiter der globalen Weiterbildung bei Siemens, beim Global Learning Campus. Heute bin ich ehrenamtlich Vorstand des Münchener Bildungsforums (MBF), mit 50 Jahren eine der ältesten Communities für betriebliche Bildung in Deutschland und mache ab und zu Projekte zum Thema Corporate Learning Strategie, plattformbasierte Ecosysteme und Skillsmanagement. Und nebenher mache ich noch viel Musik.
eLearning Journal: Als langjähriger Leiter des „Global Learning Campus“ der Siemens AG beschäftigen Sie sich mit aktuellen Trends und Entwicklungen in der L&D-Branche. Von einem besonderen Hype war in den letzten Jahren vor allem der Einsatz von Künstlicher Intelligenz begleitet. Wie bewerten Sie den Reifegrad und die Relevanz von aktuellen KI-Tools in der betrieblichen Bildung?
Dr. Kai Liebert: KI als Heilsbringer für Lernen ist ja nicht neu. Schon in den 90er Jahren gab es Konzepte, die den heutigen Ideen übrigens sehr nahekommen. Die Idee damals wie heute ist es, jeder oder jedem Lernenden möglichst präzise und aktuell die richtigen Lerninhalte für Ihre Aufgabe mit den für sie optimalen Methoden/Medien bereitzustellen. Es geht Kontextualisierung oder Personalisierung, mit dem Ziel das Lernen schneller, effektiver und vor allem selbstverantwortlicher zu machen. Damals scheiterte es an der verfügbaren Technologie. Heute sehe ich das Problem meistens darin, dass die KI-Tools nicht genügend Daten zur Verfügung haben, damit sie wirklich neue Erkenntnisse in Bezug auf Kontextualisierung liefern können. Es wird immer unterschätzt, wie viele Daten die KI braucht, um Muster zu erkennen und daraus valide Vorhersagen liefern zu können. Im Moment werden eher hybride Modelle eingesetzt. Hier werden aus einer Reihe von Informationen die Lernangebote selektiert. Das können Sachen wie persönliche Vorlieben, Daten aus dem HR- oder Skillsmanagementsystemen oder ‚was Lernen meine Peers‘ sein. Das ist nur bedingt KI im engeren Sinn, das sind eher regelbasierte Systeme. Aber das funktioniert dann schon ganz gut. Das Thema ist den Herstellern der Applikationen natürlich bekannt und deshalb wird hier sehr viel getan, damit entsprechende Daten generiert und genutzt werden können. Letztlich ist es eine Frage der Zeit. Wir werden hier in den kommenden Jahren große Fortschritte sehen.
eLearning Journal: Ein weiteres Zukunftsthema, mit dem auch insbesondere Sie sich beschäftigen, ist das Learning Ecosystem. Was genau ist eigentlich ein Learning Ecosystem?
Dr. Kai Liebert: Ich spreche lieber von plattformbasierten Corporate Learning Ecosystemen, um das ein bisschen einzugrenzen. Es ist also ein digitales Business Ecosystem, ein sozio-technisches System mit einer internet- oder intranetbasierten Plattform über die die Kommunikation der Beteiligten läuft. Diese Plattform ist beim Corporate Learning eine LXP, eine Learner Experience Platform. Die Idee dahinter ist, dass die Erstellung und Verteilung von Lernobjekten im Unternehmen weitgehend selbstorganisiert läuft. Das Ergebnis ist eine bessere Passung von Lernbedarfen und Lernangeboten und damit eine Beschleunigung von Lernprozessen. Man kann sich das ein bisschen wie YouTube vorstellen. Je mehr Inhalte es gibt, desto interessanter wird es für die User. Mehr User sind interessanter für die Produzenten. Durch diese Netzwerkeeffekte ergibt sich im Idealfall ein selbstverstärkendes System. Eine plattformbasiertes Corporate Learning Ecosystem ist ein Governancemodell, dass diese Netzwerkeffekte ermöglicht und verstärkt. Die Steuerung erfordert ganz neue Skills und ein neues ‚Betriebssystem‘ für die Corporate Learning Leute im Unternehmen – und eine neue Lernkultur für alle.
eLearning Journal: Was macht Learning Ecosystems für die betriebliche Bildung interessant?
Dr. Kai Liebert: Beim plattformbasierten Corporate Learning Ecosystem ist alles auf Schnelligkeit, Partizipation und Selbstverantwortung ausgelegt. Das passt hervorragend zu den Agile Work und New Work Ansätzen, die allerorten diskutiert und eingeführt werden. Interessant sind die Interaktionen der verschiedenen Ecosysteme in einem Unternehmen, zum Beispiel Strategie, oder Businesses. Ich habe da mal ein ‚Multiverse‘-Konzept gebaut, das die Konnektoren der Ecosysteme beschreibt. Da sehe ich noch viel Potential.
eLearning Journal: Sie sind außerdem im Vorstand des Münchener Bildungsforums (MBF), welches in diesem Jahr das 50. Jubiläum feiert. Können Sie uns das MBF kurz vorstellen?
Dr. Kai Liebert: Gegründet wurde das Münchener Bildungsforum (MBF) im Jahr 1972 unter dem Namen „Arbeitskreis Münchener Bildungsreferenten“. Das MBF versteht sich als Learning Community für betriebliche Bildungsexperten, die sich über die Grenzen ihrer Betriebe hinaus austauschen, die voneinander und miteinander lernen wollen. Als gemeinnütziger Verein finanziert sich das MBF ausschließlich über Mitgliedsgebühren, die Vorstände arbeiten ehrenamtlich. Der Verein ist traditionell stark im süddeutschen Raum verwurzelt, aber offen für Organisationen aus allen Regionen Deutschlands, sowohl für Konzerne wie auch KMU sowie öffentliche Institutionen. Aktuell gehören über 40 Organisationen, darunter alle Münchner DAX-Konzerne, und über vierzig Freiberuflerinnen und Freiberufler zum Netzwerk. Das MBF richtet für seine Mitglieder regelmäßig größere Events wie ein Frühjahrs- und ein Herbstforum aus. Auch gibt es Arbeitskreise zu spezifischen Themen (etwa Lerntechnologie, Industrie, Innovation).
eLearning Journal: Das MBF lädt am 20. und 21. Oktober zum Bildungsgipfel „L&D 2044“ und versucht einen Blick in die Zukunft der Lern- und Arbeitswelt zu werfen. Wie kam es zu der Entscheidung sich mit dem Jahr 2044 zu befassen und sich nicht etwas mit der unmittelbaren Zukunft in den nächsten paar Jahren zu beschäftigen?
Dr. Kai Liebert: Das Münchener Bildungsforum setzt sich schon lange mit Zukunftsthemen auseinander. Das waren in der Tat meistens Themen der Gegenwart oder der unmittelbaren Zukunft. Zu unserem 50-jährigem Jubiläum wollten wir einfach mal weiter springen und uns grundsätzlicher mit der Zukunft unsere Gesellschaft und von Learning und Development beschäftigen. Eine interessante Methode dafür ist die Retropolation. Sie wird vor allem in der Zukunftsforschung dazu genutzt, durch einen möglichst weiteren Sprung in die Zukunft, Rückschlüsse auf die Gegenwart abzuleiten. Kurz gesagt, steht folgende Frage im Vordergrund: Was können wir heute tun, dass die beschriebene Zukunft Wirklichkeit wird?
Natürlich gibt es bei solch einem weiterem Sprung in die Zukunft verschiedene Szenarien, die eintreten können. Um diese zu bestimmen, haben wir den MBF ‚Innovation Circle‘ gegründet. Corporate Learning Entscheider:innen aus Mittelstand und großen Konzernen sowie L&D-Influencer:innen haben dort ein Szenario für das Leben und Arbeiten im Jahr 2044 erarbeitet, das als positiv, erstrebenswert und mutmachend beschrieben werden kann. Das Ziel unserer Profession und das des Münchener Bildungsforums muss es sein, alles dafür zu tun, dass diese Vision auch wirklich eintritt. Diejenigen, die heute die betriebliche Weiterbildung gestalten und beeinflussen, stellen die Weichen für die nächste Generation. Diese Verantwortung möchte das Münchener Bildungsforum transparent und beherrschbar machen.
eLearning Journal: Der zentrale Programmbaustein des MBF sind 6 sogenannte „Zukunftslabs“. Was genau kann man sich unter einem solchen Zukunftslab vorstellen?
Dr. Kai Liebert: Aus unserem positiven Zukunftsszenario haben wir grundlegende Themen und Aufgaben für die Zukunft von L&D abgeleitet, nämlich Gemeinwohl, Performance und Disruption. Hier werden wir in Teilaspekten die wesentlichen Maßnahmen zur Erreichung unseres Zukunftsbilds diskutieren und konzipieren. Für jedes Aktionsfeld gibt es zwei relevante inhaltliche Bereiche, und das sind die Zukunftslabs. Diese sechs Zukunftslab ergänzen sich gegenseitig ergänzen und ergeben ein Gesamtbild.
eLearning Journal: Welche Themen werden in den Zukunftslabs bearbeitet? Und warum gerade diese Themen?
Dr. Kai Liebert: Das erste Zukunftslab-Thema ist ‚Green L&D‘. Dieses Aktionsfeld beschreibt ein ressourcenschonendes und nachhaltiges Leben und Arbeiten. Performance Management, Kompetenz- und Skillmodelle sowie ihre KPIs sind konsequent auf die Pionierarbeit in Sachen Nachhaltigkeit ausgerichtet. Auch die Learning und Development-Angebote sind entsprechend ausgerichtet. Virtual Reality Szenarien ermöglichen immersive Lernerlebnisse ohne Reisen, inhaltlich werden z.B. Themen wie ‚Netto 0 Business‘, ‚Degrowth-Strategien‘ oder ‚frugal Innovations‘ angeboten.
Das zweite Themenfeld nennen wir ‚Social Innovation L&D‘. Hier fungiert die Learning und Development Abteilung als Innovation Scout nicht nur für die Geschäftsthemen, sondern auch für Lernen, Zusammenleben und Kultur. L&D stellt hier sicher, dass in unternehmensübergreifenden und gesellschaftlichen Ökosystemen zusammengearbeitet wird. Vernetzung findet mit Schulen und Universitäten statt, und L&D-Programme werden zum Beispiel als Open Source der Gesellschaft zur Verfügung gestellt.
Ein weiteres Aktionsfeld, welches bereits heute große Aufmerksamkeit erhält, ist der Bereich ‚Well Being L&D‘. Hier gehen wir davon aus, dass unsere Kultur auf nachhaltiges Wachstum des Unternehmens und der Mitarbeitenden fokussiert ist. Dazu gehören Purpose und Life-Balance. Learning und Development ist in diesem Kontext in ein Well Being System des Unternehmens eingebettet. Resilienz und Agilität, selbstbestimmtes Lernen und Arbeiten, Life Balance sind Kernthemen, um die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu sichern.
Der Fokus auf die Nutzung aller Möglichkeiten, um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu sein beschreibt den Kern des Themenfelds ‚Ultra Performance L&D‘. Dazu gehört, dass unsere Mitarbeitenden schneller und effektiver Lernen. Dazu nutzen wir 2044 alle Möglichkeiten der Technologie, wie Bio-Hacking, datengestütztes Lernen durch Life Logging und dezentrales eigenverantwortliches Lernen.
Technologie wird ein Möglichmacher sein und steht im Zentrum des fünften Zukunftsthemas ‚No L&D‘. Hier gehen wir davon aus, dass die Mitarbeitenden selbstmotiviert und autonom lernen und arbeiten. KI-gestützte HR- und Lernsysteme helfen dabei. Lernen ist Teil der DNA des Unternehmens und aller Mitarbeitenden, gleichzeitig Purpose und Werttreiber. Communities definieren Inhalte, interne und externe Experten arbeiten in einem plattformgestützten Ökosystemen gemeinsam an neuen Lernthemen und -formaten. Dadurch wird eine zentrale L&D-Abteilung überflüssig. Der CEO ist gleichzeitig der CLO.
eLearning Journal: Eines der Zukunftslabs trägt den Titel „No L&D“ und geht davon aus, dass durch selbstmotivierte sowie autonome Lerner und mit Hilfe von KI-gestützten Bildungstechnologien eine zentrale L&D-Abteilung überflüssig wird. Für wie realistisch halten Sie diese Vision der Zukunft? Würden sich die anwesenden Bildungsexperten in dieser Vision nicht selbst obsolet machen?
Dr. Kai Liebert: Deshalb machen wir ja diese Übung. Lernen in Unternehmen – und nicht nur da – verändert sich im Moment gerade fundamental. 24/7 werden auf digitale Lernangebote abgerufen, vergleichbar wie beim Audio- oder Videostreaming. COVID war da wie ein Katalysator. Es geht in Richtung von mehr Selbstverantwortung, mehr Selbstbestimmung, mehr Flexibilität, mehr Geschwindigkeit und generell um ‚Learning in the flow of work‘. Und da kann und wird es in bestimmten Situationen sein, dass eine zentrale Lernorganisation eher hinderlich als hilfreich ist. Das müssen wir L&D’ler erkennen, verstehen und auch aktiv mitgestalten, sonst können wir irgendwann keinen Wertbeitrag mehr leisten.
Generell muss die L&D-Funktion einer Kultur den Weg bereiten, in der anerkannt wird, dass Arbeiten und Lernen nicht zu trennen sind, dass Arbeitszeit auch Lernzeit ist. Sie muss Menschen auch dazu inspirieren, motivieren und befähigen, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen, etwa selbst Content für die unternehmenseigene Lernplattform zu erstellen und zu kuratieren. Das klappt allerdings nur, wenn die L&D-Einheit dem Motto folgt „Eat your own dog food“: Sie muss mit gutem Beispiel vorangehen und zum Vorbild in Sachen Innovation werden.
Das berührt auch eine weiteres Zukunftsfeld, welches wir identifiziert und Wild L&D genannt haben: Learning & Development muss heute eine Ideenschmiede weit über das Learning im engeren Sinn hinaus sein. Um die Innovationskraft im Unternehmen voranzubringen, kann es zum Beispiel auch relevant sein, gezielt Innovations- und Kulturprozesse zu unterstützen. Etwa mit einem Format wie einem Hackathon die Entwicklung eines neuen Produktes zu begleiten.
eLearning Journal: Der Bildungsgipfel soll in der Erarbeitung und Verabschiedung eines Manifests münden. Welche Erwartung verbinden Sie mit dem geplanten Manifest? Welche Bedeutung könnte das Manifest für die Bildungsbranche haben?
Dr. Kai Liebert: Wir gehen davon aus, dass all die genannten Zukunftslab-Themen zusammenspielen werden, um das positive Zukunftsszenario zu erreichen. Je nachdem, was die Zukunft bringt, werden manche mehr und manche weniger von Bedeutung sein. Jedoch ist es dem Münchener Bildungsforum wichtig, den Perspektivenwechsel anzustoßen und zu begleiten. Es geht darum, die den Blickwinkel derjenigen Menschen einzunehmen, die im Jahr 2044 leben und arbeiten werden. Der Bildungsgipfel und das dort erarbeitete Manifest, kann und darf nur ein Auftakt für einen weiter Diskurse und konkrete Initiativen der verschiedenen Generationen sein.
Das Manifest wird sowohl Prinzipien, die zukunftsgerichtet sind, umfassen, aber auch Handlungsempfehlungen, die sofort umgesetzt werden können. Es soll keine theoretische Abhandlung werden, sondern ein Arbeitspapier. Das bedeutet auch, dass wir nach dem Bildungsgipfel daran weiterarbeiten werden. Wir hoffen, dass wir der Bildungsbranche damit Impulse geben können, aktiv die Zukunft der Profession zu gestalten. Wenn es sein muss, auch durch sehr radikales Handeln in Bezug auf den eigenen Verantwortungsbereich.
eLearning Journal: Zum Abschluss: Wieso sollte man den Bildungsgipfel des MBF am 20. und 21. Oktober auf keinen Fall verpassen?
Dr. Kai Liebert: Es gibt, zumindest in 2022, keine Veranstaltung, die sich so konsequent mit der Zukunft von L&D auseinandersetzt. Es ist eine Veranstaltung für Menschen, die gemeinsam etwas bewegen wollen und keine Messe mit angeschlossener Konferenz und Sponsorenmeetings. Der erste Test des Formats im Rahmen des MBF-Frühjahrsforums im Mai hat uns gezeigt: der Perspektivenwechsel funktioniert und begeistert die Teilnehmenden. Und er macht uns allen klar: Wir müssen auch an die großen Dinge gehen und unsere Zukunft in die eigene Hand nehmen. Let’s make it a good one! Wir sehen uns auf dem Bildungsgipfel 2022!
Weitere Infortmationen zum Bildungsgipfel finden Sie unter folgendem Link:
Bildungsgipfel | Münchener Bildungsforum (muenchener-bildungsforum.de)