Mit analogen Mitteln zum digitalen Erfolg

Dass die Pandemie hat der digitalen Transformation in Deutschland einen deutlichen Schub verpasst und auch zukünftig werden Zoom oder Teams-Calls eine attraktive Alternative zum Präsenzmeeting darstellen. Gleichzeitig wird es mit zunehmendem Digitalisierungsgrad immer wichtiger, auch Verhaltensweisen und Prozesse an die Veränderungen anzupassen. Warum auch in einer digitalen Welt das Analoge nicht außer Acht gelassen werden sollte und was dies möglicherweise mit Tanzen zu tun hat, erklärt Dr. Julia Christensen im Vorfeld zu ihrem Vortrag auf der LEARNTEC 2022 in unserem Interview.

eLearning Journal: Guten Tag Frau Dr. Christensen. Sie sind am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik als Wissenschaftlerin mit dem Tanzen beschäftigt. Was kann man denn hier erforschen? 

Dr. Julia Christensen: Es gibt rund um das Tanzen unglaublich viel zu erforschen, und wir stehen erst am Anfang! Viele Menschen denken bei Tanzforschung geht es „nur“ um die besonderen Gesundheitswirkungen des Tanzens. Diese Wirkungen sind natürlich auch wichtig, aber vor allem kann man als Forscher*In die Expertise von Profi-Tänzern nutzen, um mehr über grundlegende Funktionen des menschlichen Gehirns zu erforschen. Zum Beispiel, wie das Gehirn Gewohnheiten „macht“, und welche Wirkungen Gewohnheiten und Routinen auf unser Gehirn, und dadurch auf unsere Produktivität, unsere Motivation, und auf unser Wohlbefinden haben. Profi-Tänzer erbringen täglich Höchstleistungen, denen es sowohl körperlicher, als auch mentaler Stärke bedarf – und es sieht alles komplett Mühelos aus. Wer würde da nicht gern mal bei den Neuronen der Profi-Tänzer nachhorchen, wie die das so machen? Im Englischen würde ich sagen „dance expertise is a window to human brain function“.

eLearning Journal: Sie waren selbst Tänzerinund wissen daher besser als jede andere wovon Sie reden…

Dr. Julia Christensen: Ja, die Forschung, die ich heute am MPIEA betreibe ist eng verknüpft mit meiner eigenen Vita. In meinem „ersten“ Leben machte ich eine Ausbildung zur Profi-Tänzerin, bis eine Verletzung den Traum von einer professionellen Tanzkarriere zunichte machte. Stattdessen studierte ich Psychologie und Neurowissenschaften in Frankreich, Spanien und England. Was ich dort lernte machte mir plötzlich klar, dass viele der Dinge, die Profi-Tänzer*Innen täglich lernen und praktizieren, für unser Gehirn Gold wert sind, um Höchstleistungen zu erbringen. Egal ob man Tänzer*In ist oder nicht. Durch einen Zufall fiel mir während des Studiums ein wissenschaftlicher Fach Artikel in die Hand, in dem es um genau das ging: was kann man durch die Gehirne von Profi-Tänzern darüber lernen, wie unser Gehirn tickt? Daraufhin machte ich für meine Promotion das Tanzen zu meinem Forschungsinhalt – und das ist es bis heute.

eLearning Journal: Ihre Keynote auf der LEARNTEC 2022 trägt den Titel „‘Mind the gap‘: Mit analogen Gewohnheiten von gestern fit für die digitale Welt von Morgen“. Was genau dürfen wir von Ihrem Vortrag erwarten?

Dr. Julia Christensen: Kennen Sie dieses Gefühl, wenn der Kopf einfach komplett überfüllt scheint, man keine einzige weitere Videokonferenz ertragen kann, jede weitere E-Mail im Posteingang Schweißausbrüche auslöst? Sie fühlen sich ausgelaugt und so, als tanzten in Ihrem Kopf gerade Ameisen Samba?

Das ist eine ganz natürliche Reaktion unseres Gehirns auf die digitale „Welt“. Was uns davor schützt sind gute Gewohnheiten und Routinen. Diese entstehen in unserem Gehirn, wollen wir es oder nicht, durch unser Tun in der analogen Welt. Um diese besonderen Verknüpfungen in unserem Gehirn, und wie sie entstehen, soll es im Vortrag gehen.

eLearning Journal: Der Begriff „analog“ ist in unserer zunehmend digitalen Welt eher negativ behaftet. Welche analogen Gewohnheiten können dennoch für die digitale Welt relevant sein?

Dr. Julia Christensen: Unser Gehirn hat sich genetisch in den letzten 200.000 Jahren so gut wie gar nicht verändert. Wir leben mit unserem Steinzeitgehirn in der Welt von heute und die hat herzlich wenig mit der Welt zu tun, in der unser Steinzeitgehirn durch die Evolution entstand. Wir glauben, unser Gehirn liebt es „zu denken“. Was es aber vor allem liebt ist sich „zu bewegen“. Dieses liebe Organ zwischen unseren Ohren ist ein aggressiver Überlebenskünstler, für den Bewegung alles ist. Das hat verschiedene Auswirkungen auf unsere Arbeit in der modernen digitalen Welt. Viele denken, man kann sich gute Gewohnheiten und Routinen an-„denken“, oder irgendwie digital „einpflanzen“.  Das geht aber gar nicht, Matrix ist und bleibt noch ein Science-Fiction Film. Um sich eine Gewohnheit anzugewöhnen braucht es bestimmte Bewegungen unseres Körpers. Sonst macht unser Gehirn gar nichts.

eLearning Journal: Ich ahne es, da kommt die Balletttänzerin wieder ins Bild gesprungen:

Dr. Julia Christensen: Ja, die Gehirne von Balletttänzer:innen machen uns vor, wie es geht. Tag für Tag immer die gleichen Bewegungen, stundenlang… das klingt langweilig, ist aber effektiv. Wenn wir unserem Gehirn „von gestern“ auch in der digitalen Welt von Morgen Höchstleistungen entlocken wollen, dann hilft es, zu wissen, worauf diese kostbaren Windungen in unserem Oberstübchen besonders gut reagieren. Und welche Aspekte dieser digitalen Welt vielleicht auch unserem Erfolg im Wege stehen, einfach weil unser Gehirn tickt, wie es nun mal tickt. Es lässt sich alles lösen, nur, gewusst wie! Anhand einer Ballettpirouette und den ästhetischen Gewohnheiten von Profi-Tänzern erkläre ich, wie das Gehirn Gewohnheiten macht. Keine Angst, keiner muss Pirouetten lernen beim Vortrag. Aber ich würde mich freuen, wenn am Ende alle gedanklich Pirouetten drehen, und sich mit dem Wissen, wie unser Gehirn gute Gewohnheiten macht, zu Höchstleistungen hinaufschwingen!

eLearning Journal: In den vergangenen 2 Jahren gab es in der betrieblichen Bildung einen besonderen Digitalisierungsschub. Welche analogen Gewohnheiten können Ihrer Einschätzung nach vor allem im Kontext von digitalem Lernen vorteilhaft sein bzw. einen Mehrwert darstellen?

Dr. Julia Christensen: Ich möchte im ersten Schritt das Wissen, wie unser Gehirn Gewohnheiten entwickelt, vermitteln. Erst der zweite gibt konkrete Anleitungen, welche Gewohnheiten und Routinen für den einzelnen besonders hilfreich im Arbeitsalltag in der digitalen Branche sind. Das ist individuell verschieden.

eLearning Journal: Wir reden so leicht über Gewohnheiten. Biologisch ist das ja etwas recht Komplexes?

Dr. Julia Christensen: Die Neuroplastizität unseres Gehirns, also die Fähigkeit, neue Verknüpfungen zwischen Neuronen zu bilden, macht es möglich, dass Gewohnheiten überhaupt entstehen. Und Gewohnheiten sind, in ihrer grundlegendsten Form, die Verbindung zwischen einer Bewegung (z.B. sich auf das Sofa fallen lassen) und einem Genuss (z.B. das wohlige Gefühl der Entspannung auf dem Sofa). Und Genuss macht etwas Besonderes mit uns: es motiviert uns, Dinge wieder zu tun.  Das gilt für die guten Gewohnheiten, aber leider für die schlechten. Und unser Gehirn geht noch einen Schritt weiter: es merkt sich sogar, welcher Reiz diesen Genuss auslöste, d.h. schon der Anblick des Sofas reicht. Beim nächsten Mal, wenn wir das Sofa sehen, dann aktiviert Ihr Gehirn die Erinnerung an den Genuss vom letzten Mal, und schon haben Sie das Gefühl, es „saugt“ Sie das Sofa an. Ihr Gehirn erinnert Sie dann auch an die Bewegung, die sie tun sollten. Und schon bewegen Sie sich Richtung Sofa. Das nennt man in der Psychologie „positive Verstärkung“.

eLearning Journal: Und wie schaffen wir es nun, die „guten Gewohnheiten“ zu verstärken?

Dr. Julia Christensen: Das Prinzip, wie eine Gewohnheit entsteht, ist ja nun klar. Also geht es auch darum, die schlechten Gewohnheiten zu erkennen und sie zu vermeiden. Wir müssen uns selbst schützen! Ein Beispiel: der Anblick Smartphones reizt uns, danach zu greifen und zu checken, ob man Nachrichten hat (Bewegung). Und das Gehirn genießt (jaaaa, ich habe eine Nachricht). Das Ergebnis ist fatal: man kann sich garnicht mehr konzentrieren, man wird ständig in seinem Arbeitsfluss unterbrochen, die Gedanken kreisen um das Handy und die Erwartung einer neuen Nachricht. Die Produktivität sinkt. Was tun? Handy aus dem Sichtfeld.

eLearning Journal: Zum Abschluss: Warum sollte man Ihren Vortrag auf der LEARNTEC 2022 auf keinen Fall verpassen?

Dr. Julia Christensen: Wir merken täglich, dass uns die digitale Welt überlastet. Das reicht von der leichten Überforderung bis hin zum Burnout. Wir muten unserem Steinzeitgehirn zu viel zu und nehmen zu wenig Rücksicht auf seine Bedürfnisse. Ich teile gerne mein „Tänzerwissen“ und gebe weiter, wie die Gewohnheiten und Routinen von Profi-Balletttänzern Experten und Managern in der IT-Branche helfen können. Ich spreche als Tänzerin und Neurowissenschaftlerin und zeige, wie man -mit den richtigen Gewohnheiten- sich und seine Kollegen zu Höchstleistungen bringen kann. Unser Gehirn ist altmodisch, es ist ein Bewegungsjunkie, ein Genussjunkie, und ein Sensation Seeker. Mit Wissen aus den modernen Neurowissenschaften wollen wir versuchen den Spagat zu schaffen, dass diese aggressiven Überlebensstrategien unseres Steinzeitgehirns für uns arbeiten, und nicht gegen uns und unseren Erfolg in der digitalen Welt.

Give dance a chance… und entdecken Sie Spannendes, Wunderbares und Nützliches über Ihr Gehirn.