Werden digitale Bildungsplattformen zu digitalen Ruinen?
Jan Foelsing von der Hochschule Pforzheim (HSPF) spricht über Realität und Zukunft von Learning Experience Plattforms.
Sind wir mit einem Learning Management System (LMS) auch für die Zukunft gut aufgestellt? Oder sind wir an einen Punkt angekommen, wo wir Learning Experience Plattforms (LXP) brauchen? Was sind LXPs überhaupt? Was alles hinter den drei Buchstaben steckt und damit zusammenhängt, klären wir in einem Gespräch mit Herrn Foelsing von der Hochschule Pforzheim.
eLearning Journal: Herr Foelsing, für welche Universität sind Sie zurzeit unterwegs und mit welchen Themen sind Sie dort konkret in Forschung und Entwicklung beschäftigt?
Jan Foelsing: Ich bin bei der Hochschule Pforzheim im sogenannten eLearning Competence Center tätig, ein vom BMBF gefördertes Projekt und da bin ich mittlerweile schon seit 2013. Ich habe dort erst viel in Richtung moderner Lernformen gearbeitet, wie Videotraining, Flipped Classroom, Blended Learning. Seit 2017 bin ich mit einem Projekt unterwegs, das in Richtung Social Collaboration Platform geht. In diesem Projekt folge ich der Frage, wie ich die künstliche Trennung zwischen Lernen und Arbeiten aufheben kann. Insofern würde ich jetzt sagen, dass ich erforsche, wie ich Enterprise Social Networks für Lernen benutzen kann. Dabei schaue ich verstärkt darauf, was diese Learning Experience Platforms eigentlich sind und was die bringen können.
eLearning Journal: Das ist ja das Thema, was die Akteure im operativen Geschäft der betrieblichen Bildung interessiert. Gerade dort ist man auf dieser Reise der digitalen Transformation der betrieblichen Bildung und es wird im Bewusstsein der Akteure deutlich, dass eine Verzahnung zwischen informellem Lernen und formellem Lernen eine immer wichtigere Rolle spielt. Das Ganze findet hinter dem Stichwort VUCA-Welt statt und vielleicht können Sie uns einmal eine Definition, eine Orientierung geben, was das für eine Welt ist, in die wir da eintreten?
Jan Foelsing: Also, ich will gar nicht groß auf das Akronym eingehen, das kann man ja googlen. Im Groben bedeutet es eigentlich nur, dass unser Kontext schnelllebiger, komplexer und weniger planbar, steuerbar, mehrdeutig, vielschichtig wird. Das sind hier so die Schlagworte. Was in diesem Kontext aber viel interessanter ist, sind zum Beispiel einzelne Themenfragmente, die darin entstanden sind. Zum Beispiel nennen wir sie eigentlich Learning Experience Platforms, obwohl diese eigentlich mehr aus der Consumer Experience stammen. Also der Unterschied zwischen der betrieblichen Bildung oder generell den Tools, die im Arbeitskontext verwendet werden und denen, die wir im Privaten verwenden. Im Privaten, aus der Consumer Experience heraus betrachtet, sind wir gewohnt, dass wir kleine Apps und Lösungen für spezifische Problemstellungen nutzen können. Die sind sehr leicht zu nutzen und sehr gut von der Usability und es macht teilweise sogar Spaß, mit diesen Apps zu interagieren. Und dann kommen wir in den Unternehmenskontext rein und in meiner Zeit als SAP-Berater sitzt man dann vor Systemen mit unglaublich hoher Komplexität, von der Usability teilweise eher schwierig und gerade auch vom Erscheinungsbild eher verbesserungswürdig. Das ist eben ein eklatanter Unterschied. So entstand das Thema Consumer Experience im Rahmen der VUCA-Welt und die gilt es eben jetzt auch, in die Organisationen reinzutragen.
Ein anderer Aspekt der VUCA-Welt ist, dass wir sehr viele planbare stabile Wachstumsmärkte hatten, das heißt, wir konnten sehr prozessorientiert und strukturiert vorgehen. Das gilt nicht nur für unsere Arbeitsprozesse, sondern auch für die Lernprozesse. In diesem VUCA-Kontext passieren nun aber immer mehr Sachen, die wir nicht vorhersehen können. Deshalb müssen wir mehr Räume schaffen, um Experimente durchzuführen und Dinge zu explorieren zu Themen, wo wir das Ergebnis noch nicht kennen. Das ist vielleicht auch noch ein zweiter Punkt, der bezeichnend für die VUCA-Welt ist.
eLearning Journal: Wenn wir jetzt noch einmal ganz nüchtern diesen Blick auf die betriebliche Bildung werfen, da haben wir eine Entwicklung in den letzten 10 Jahren, dass aus Seminarkatalogen und Tagungshäusern zunehmend digitale Bildungsplattformen wurden. Das heißt, es wurden immer mehr digitale Weiterbildungsplattformen als Lernmanagementsysteme zur Ausgabe von eLearning eingesetzt. Werden jetzt diese digitalen Bildungsplattformen zu digitalen Ruinen? Brauchen wir wirklich etwas Neues? Was unterscheidet denn letztendlich ein Lernmanagementsystem, also ein LMS von einem LXP?
Jan Foelsing: Das finde ich eine wichtige und gute Frage, weil ganz ehrlich gesprochen, habe ich am Anfang gedacht, dass LMS-Systeme nicht unbedingt mein Forschungsgebiet sind. Dann kam dieses LXP-Thema auf und das Schlagwort „Experience“ ist ja heutzutage überall. So habe ich zuerst auch gedacht, die Lernmanagementsystemhersteller brauchen natürlich auch mal etwas Neues in der Pipeline und nennen jetzt Lernplattformen einfach mal LXP. Da hat es ein bisschen gedauert, um zu verstehen, wie die Plattformen funktionieren und aus welcher Denkrichtung die eigentlich entwickelt wurden. Wir malen sie jetzt einmal schwarz-weiß und versuchen, sie so voneinander abzugrenzen. Das Lernmanagementsystem, das sagt schon das Management in der Mitte, kommt aus einer organisierenden und strukturierenden Haltung. Eine logische Konsequenz in Bezug auf immer mehr Seminarkataloge mit verschiedenen Trainings, die man strukturieren und platzieren musste. Es geht also darum, Möglichkeiten bestmöglich auf die Leute verteilen zu können. In LMS wird der Content von uns immer vorgedacht, vorproduziert und wir sagen dem Lernenden, wann er was abzuarbeiten hat. Das ist eine passive Haltung, auch für den Lernenden und hat nichts mit Selbstverantwortung zu tun. Zum Schluss kriege ich vielleicht noch einen Test und ein Zertifikat und dann habe ich diesen Part abgeschlossen.
In LXP-Systemen steht das X in der Mitte für Experience, ein Thema was zum Beispiel ganz stark an Design Think angelehnt ist: Wie kann ich aus der Userperspektive denken bzw. wie kann ich aus der Lernperspektive denken? Es geht also darum, Inhalte, die überall in verschiedenen Systemen vorhanden sind, besser auffindbar zu machen. Dabei geht es nicht nur um Inhalte in den LMS, sondern auch um externe Quellen, andere Contents jeglicher Art. Ich nenne es immer eine Google-Suche für interne Lerninhalte. Aber nicht nur für Lerninhalte oder Informationen, sondern auch für Personen. Die Antwort auf Problemstellungen muss nicht immer eine Information sein, sondern eben auch eine Kollegin oder ein Kollege. Und da glaube ich, setzen diese Learning Experience Plattformen an oder sollten sie zumindest aus meiner Sicht.
eLearning Journal: Schauen wir uns diese Entwicklung mal genauer an. 2005 bin ich zum ersten Mal über die LEARNTEC gegangen, die Mutter aller eLearning-Veranstaltungen. Ich war zwar Journalist, aber das, was dort die Aussteller als neuen Hype feierten, hat sich mir nicht ganz erschlossen. Sie hatten so silberne Scheiben (CDs) und da waren 78h Lerncontent drauf. Das ist so in etwa, wie alle Folgen „Stirb langsam“ hintereinander zu schauen, aber das war dann die formale Weiterbildung. Heute erleben wir den Trend, dass die Lerninhalte immer kürzer und zu Learnnuggets verarbeitet werden. Auch diese sogenannte 70:20:10-Formel sind im Bewusstsein vieler Unternehmen, das heißt 70 % des Lernens findet informell statt, 20 % picke ich mir noch aus dem Dialog mit den Kollegen und 10 % ist das, was wir früher als Weiterbildung gesehen haben. Jetzt kommt LXP, was den Unternehmen ja anbietet, die informellen Lernbedarfe besser zu unterstützen. Die Frage ist aber letztendlich, woher weiß ich im operativen Geschäft oder der betrieblichen Bildung, was die Bedürfnisse des Lerners sind? Was braucht denn der Beschäftigte für sein Learning Experience?
Jan Foelsing: Das ist im Prinzip die größte Herausforderung und macht die Einführung eines LXP-Systems nicht so leicht wie ein LMS. Denn wenn wir Lernen bedürfnisorientierter, individualisierter, ich nenne es gerne anschlussfähig, machen wollen, dann müssen wir erst einmal wissen, wo der einzelne Lernende überhaupt steht. Welchen Reifegrad hat der? Welche Bedürfnisse hat er, den nächsten Lernschritt zu machen? Dazu müssen wir anfangen, ganz viele Daten aus ganz vielen unterschiedlichen Systemen zu sammeln. Zum Beispiel, bei welchen Kunden ist der unterwegs, welche Projekte führt er durch, welche Tätigkeiten hat er gemacht, welche Fähigkeiten hat er sich erworben? Und dazu müssen wir ganz viele Daten sammeln.
eLearning Journal: Sprechen wir an dieser Stelle nicht von Datenschutz und auch nicht von den Betriebsräten, sondern schauen wir doch einmal auf die Rolle des Unternehmens, bei dem Gedankenbild, was wir da gerade entwickeln. Was verändert sich denn für das Unternehmen, wenn es diesen Weg gehen will?
Jan Foelsing: Es findet natürlich ein Rollenwechsel der Personalentwicklung statt. Wir haben früher sehr viel vorgegeben, gesteuert, kontrolliert, also das, was eben auch ein Lernmanagementsystem auszeichnet. Und jetzt müssen die Unternehmen sozusagen neue Räume öffnen. Aber sie sollten sich auch nicht völlig öffnen und sagen, du bist jetzt ein freier Lerner. Gerade bei der ganzen Informationsmenge um uns herum kann man da schnell die Orientierung verlieren. Deshalb heißt jetzt dieses neue Lernen nicht, mach doch was du willst, sondern bedeutet, dass wir dem Lerner zumindest das Feld an Möglichkeiten weiter öffnen und im Lernprozess immer wieder Hilfestellungen geben. Dies hat viel mit Austausch und informellen Lernen zu tun. Wo befindest du dich gerade? Reflektier dich doch mal! Was kannst du als nächstes gebrauchen? Mit wem solltest du dich austauschen? Es geht dabei weg von Kontrolle und Steuerung hin zu Öffnung und Unterstützung. Das hört sich so simpel an, aber das ist ein ganz großer Mindshift in unseren Köpfen.
eLearning Journal: Schauen wir doch einmal aus der Sicht des Lernenden, also des Beschäftigten auf dieses Thema. Von ihm wird ja ein neues Rollenverständnis erwartet, ich höre in dem Zusammenhang immer wieder selbstbestimmtes Lernen und selbstverantwortliches Lernen. Aber was können wir denn dazu beitragen in den Betrieben, dass der Lernende nicht einfach sagt: „Change mich am Arsch, das geht mir alles viel zu weit“?
Jan Foelsing: Das ist eigentlich die Königsfrage und da sind wir ganz schnell beim Thema Kultur. Wenn wir Lernen in der Organisation anschlussfähig machen wollen oder wenn der Lernende sozusagen motiviert sein soll, auch selbstbestimmt und selbstorganisiert etwas zu tun, dann müssen wir auch den organisationalen Rahmen anpassen, was sich wiederum auf die Kultur auswirkt. Also, wir können Kultur per se nicht verändern, wir können nur Rahmenbedingungen verändern und dann gucken, welche Kulturmuster darin entstehen. Auch hier ist es wieder wichtig, den Lernenden dementsprechend Raum zu geben, sich zu entfalten und darin zu unterstützen. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang den Lernenden eine Art „Lernbudget“ geben, einen Freiraum, den er nutzen kann, um sich Sachen anzugucken, die vielleicht auch nicht direkt mit seiner Arbeit korrelieren oder verzahnt sind. Einfach auch mal den Blick über den Tellerrand!
eLearning Journal: Ja, so macht das auch Zühlke in der Schweiz. Dort können sich Lernende zusammenschließen und eine Budgetanfrage stellen. Indem sie selbst Vorschläge machen, bekommen sie so sehr viel Handlungsspielraum, um auch als Interessengemeinschaft Lernszenarien mitentwickeln zu können. Aber bleiben wir doch jetzt noch einmal bei dem Begriff „Kultur“, den Sie gerade verwendet haben. Das ist ein sehr flüchtiger Begriff in der betrieblichen Bildung, den es geht ja immer um die Lernkultur. Wer ist denn eigentlich verantwortlich für die Lernkultur? Wie kann ich eigentlich Einfluss auf die Lernkultur nehmen?
Jan Foelsing: Auch da gibt es wieder ganz viele Stellschrauben, was ja auch generell das Problem in der VUCA-Welt ist. Es gibt nicht mehr die eine perfekte Antwort. Das ist eigentlich auch bei den Lernplattformen so, denn hier hat die Kultur auch nicht dazu gepasst, um die Lernplattform zum Fliegen zu bringen. Aber für mich ist die Führungskraft und das direkte soziale Umfeld von dem einzelnen Lernenden ein ganz zentraler Stellhebel, denn dein Umfeld prägt dich. Wenn deine Kolleginnen und Kollegen diese Art von Lernen mit unterstützen und vor allem auch die Führungskraft das Ganze vorlebt, dann weckt das auch dein Interesse. Also, wenn wir jetzt an Learning Experience Plattformen denken und Mitarbeiter sehen, dass deren Führungskraft drin ist, die sich da Informationen abholt, ist dieses Vorleben ganz eklatant wichtig. Ich glaube, dass das ein ganz mächtiger Stellhebel ist, um eine Kultur in einer Organisation verändern zu können und dafür brauchen wir auch wieder den Raum für die Führungskräfte, dieser Vorbildfunktion gerecht zu werden. Auch da ist beim Lernen wichtig nicht nur den Raum für unsere Mitarbeiter zu schaffen, sondern auch für Führungskräfte, sodass sie es vorleben können. Und auch da reden wir wieder viel über Wertschätzung.
eLearning Journal: Wertschätzung ist ein gutes Stichwort. Schauen wir doch mal etwas genauer in die betriebliche Bildung, z.B. durch unsere BENCHMARKING Studien, an denen sich ja 1000 Unternehmen im Jahr beteiligen. Dort ist schon seit 15 Jahren immer noch das Top Thema Akzeptanz. Also im Bezug zu unserem Thema, wie schaffe ich Akzeptanz für LXP? Das ist die Frage, wie motiviere ich den Lerner? Sie haben bereits die wichtige Rolle und Wirkung von Wertschätzung auf den Lerner erwähnt, aber was wären denn weitere Aspekte für Wertschätzung, die Sie erkennen können, die uns hier helfen könnten?
Jan Foelsing: Für mich ist hier Hauptankerpunkt die wertschätzende Unterstützung des internen Netzwerks. Natürlich gibt es aus der Gamifizierung auch noch sowas wie Badges, dass man hervorheben kann, das jemand durch ein Modul zum Experten auf einem Gebiet geworden ist, oder jemand so und so vielen Leuten in der Organisation geholfen hat, Probleme zu Lösen. Wichtig ist, dass Engagement von unseren Lernenden in der Organisation transparent gemacht wird und das geht natürlich durch ein Lob durch die Führungskräfte oder durch eine Auszeichnung bei Jahrestreffen, Firmentreffen oder dergleichen. Aber Badges allein reichen nicht aus, das ist nur eine Gamifizierung. Aber zumindest ist es ein Schritt in die richtige Richtung, um den Leuten auch zu zeigen, dass wenn du dich besonders reinhängst, dann kriegst du von uns eben auch eine gewisse Wertschätzung. Ob das jetzt allerdings mit Gehalt verbunden sein sollte, da müssen wir kritisch darüber nachdenken, denn sobald wir das an etwas Monetäres knüpfen, sind wir wieder direkt in Konkurrenz mit anderen. Wenn ich das besser mache wie mein Kollege und ich dann schneller aufsteige und mehr Gehalt kriege, dann haben wir schnell eine negative Kultur. Denn die neue Lernkultur lebt ja primär vom Austausch und deshalb wollen wir keine Kultur alias ich habe die meisten Badges und die höchste Punktzahl erreicht. Insofern müssen wir da vorsichtig sein, dass wir das mehr auf einen Teamaspekt beziehen und nicht zu stark auf das einzelne Individuum.
eLearning Journal: Naja, der Lernende ist ja immer ein Beschäftigter und die Frage ist, bezahlen wir mit Applaus oder mit harter Währung? Wenn wir uns die Weiterbildung anschauen, ist es auch immer die Frage nach Anpassungsqualifizierung oder eine Aufstiegsqualifizierung. Viele Beschäftigte sind natürlich müde, ständig Anpassungsqualifizierungen machen zu müssen und dabei keine Chance zu sehen, wie sie dadurch ihr Häuschen abbezahlen oder dass sie sich den Lebensstil leisten können, den sie beim Nachbarn sehen. Wenn wir uns nun immer mehr in Richtung informellen Lernen verschieben, auch durch LXPs, inwieweit wird den Beschäftigten nicht die Aufstiegsqualifikationen ersatzlos weggenommen, die bei der klassischen Weiterbildung mit Zertifizierung möglich sind?
Jan Foelsing: In den momentan vorherrschenden organisationalen Systemen kann man durch Zertifikate schneller aufsteigen, dem möchte ich auch zustimmen. Das heißt, in dem Übergang Richtung Netzwerkorganisationsformen stimme ich dir voll zu. Da sollten wir eben auch gucken, wie so ein Engagemeng durch entsprechende Karrieresteps oder, wie wir gesagt haben, Wertschätzung und Anerkennung gewürdigt werden kann. Allerdings glaube ich, dass auf Dauer auch die organisationalen Systeme sich mehr Richtung Netzwerke organisieren werden und dann wird dieser Karriereaufstieg ein bisschen flacher. Aber da sind wir jetzt schon zwei, drei Schritte weiter voraus. Insofern, um LXP-Systeme momentan anschlussfähig zu machen, sollten wir noch mit Zertifizierungen oder Bonuszahlungen arbeiten, um etwas herauszustellen. Allerdings würde ich jetzt trotzdem schon versuchen das mehr in Richtung Teamleistung zu leiten und weg vom Individuum. Die VUCA-Welt und die Komplexität benötigt Vernetzungsdichte und Austausch. Und darauf muss der Fokus liegen, auch wenn wir hier und da natürlich Karriereschritte mit integriert sein sollte.
eLearning Journal: Ok, da bin ich ganz bei Ihnen. Aber bei diesem Punkt sieht man doch bei globalen Unternehmen wie beispielsweise IBM, dass die mittlerweile mit digitaler Systematik und durch Mitarbeitergespräche gemeinsame Ziele festlegen und die dadurch informell erworbenen Kompetenzen auch Einfluss auf die Gehaltsfindung haben. Auch in Deutschland gibt es zarte Anfänge, informell erworbene Kompetenzen zu validieren und von einem Betrieb zu einem anderen mitnehmen zu können und somit Zugänge zu Arbeitsmärkten zu schaffen. Da gibt es das Projekt Qualcomm, das ja auch schon seit sehr vielen Jahren vom BMBF gefördert wird. Zielgruppe sind hier Migranten, deren Qualifizierungsnachweise oftmals aus Sicht der berufsbildungspolitischen Ordnungsarbeit nicht gelten. Da landet ein Architekt, Bauleiter oder Arzt aus Syrien hier in der Qualifikationsstufe Tellerwäscher. Also zumindest gibt es schon einmal zarte Ansätze, wie Lösungen auch aussehen könnten. Aber jetzt den von Ihnen eingeforderten Schritt zurück zu machen in die Lebenswirklichkeit der Betriebe heute im DACH-Bereich. Sehen Sie dann bereits Best Practice Beispiele, bei denen Sie sagen, das sind die richtigen Schritte, woran sich auch andere Unternehmen orientieren können, um sich in Richtung Learning Experience Platform zu bewegen?
Jan Foelsing: Bevor ich auf die Beispiele eingehe, möchte ich noch einmal kurz zu dieser Kompetenzentwicklung zurückkommen. Wenn man sich jetzt einmal LinkedIn anguckt, kann ich ja dort meine Kompetenzen eintragen, die dann von anderen aus meinem Netzwerk validiert werden können. Sie haben ja eben auch von Validierung gesprochen, ich finde das viel aussagekräftiger als ein Zertifikat oder Arbeitszeugnis. Da vielleicht noch einmal kurz ein praktisches Beispiel von mir selbst, von meiner eigenen Entwicklung. Ich habe sehr lange sehr viel Papier gesammelt. Ich habe die Weiterbildung besucht, ich habe mir alles schriftlich geben lassen. Meistens war es so, dass ich selber die Hälfte meiner Zeugnisse verfasst und beschrieben habe, was ich gemacht habe. Das hat natürlich viel weniger Aussagekraft über meine Fähigkeiten und da finde ich eine Kompetenzvalidierung wie über LinkedIn viel sinnvoller.
Um jetzt den Bogen zu schlagen zu den Beispielen: Ein Marketingagentur in München, Spiritlink, haben das Kompetenzmanagement bottom-up organisiert. Das heißt also, die Kompetenzen werden von den Mitarbeitern definiert und über LinkedIn validiert. Dazu haben sie sich auch ein eigenes Tool gebaut, damit jeder sehen kann, wer welche Kompetenzen hat und in welchen Projekten tätig ist. Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo zwischendrin. Wir haben natürlich strategische Kompetenzen, die von top-down durchaus vorgedacht werden sollten. Aber wir haben auch ganz viel Kompetenzen, die uns anschlussfähig an die tatsächliche Arbeit unserer Mitarbeiter machen sollten. Deswegen sollte das Ganze in einer Art „mittel-up-down“ passieren. Ein weiteres Beispiel aus diesem Kontext für Unternehmen, die Schritte in diese Richtung Learning Experience gemacht haben, ist Viessmann. In einem Impulsvortrag hat das Unternehmen vorgestellt, was die gerade machen und aufbauen, und ich habe wirklich gedacht, dass das Sinn macht, in welche Richtung die gehen. Was war das noch einmal? Das war doch auf einer SUMMIT-Tour von Ihnen?
eLearning Journal: Die haben ein Vertrauenslernzeit-Experiment durchgeführt. Das heißt, die Lerner hatten 2 Stunden in der Woche, wo sie lernen konnten was sie wollen. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet mm dann nachher auszuwerten, was passiert denn eigentlich, wenn man diesen Freiraum gibt?
Jan Foelsing: Das ist natürlich schön, denn die haben das auch ein bisschen begleitet und evaluiert. Was passiert denn jetzt eigentlich wirklich? Wo braucht es mehr Unterstützung und Steuerung? Da sind wir wieder am Anfang von den Leitplanken. Wir können jetzt sagen, ihr habt zwei Stunden Zeit, macht, was ihr wollt! Also experimentellen Freiraum geben, um mal zu gucken, was passiert denn dann eigentlich, wenn wir es wirklich komplett frei geben? Aber man muss dabei eben auch kritisch hinterfragen, evaluieren und nicht einfach zu dem Schluss zu kommen, ja haben wir probiert, unsere Mitarbeiter haben dann irgendwie nichts gemacht. Nein, man muss wirklich gucken, wo hat denn etwas funktioniert und warum hat es funktioniert? Und wie können wir vielleicht die Leute aktivieren, weiter unterstützen, damit sie eben das, was sie dort erreicht haben, auch in die Organisation tragen, um es wieder anschlussfähig zu machen und Communities aufzubauen! Ich glaube, das finde ich einen sehr charmanten Weg.
eLearning Journal: Eine letzte Frage noch. Wenn wir das Ganze, was wir jetzt erörtert haben, also diesen Blick in die Zukunft der betrieblichen Bildung, einmal in den Kontext setzen von DACH-Bereich zu international, zu global, welchen Eindruck haben Sie? In welcher Reisegeschwindigkeit sind wir hier zurzeit unterwegs? Sind wir auf dem Zug der Abgehangenen? Sind wir die Taktgeber? Sind wir mittendrin? Wo sehen Sie uns da?
Jan Foelsing: Ich hoffe, wir sind mittendrin. Man sieht hier und da schon mal Bemühungen, diese Learning Experience Plattformen mit Leben zu füllen oder dieses Thema anzugehen. Die große Problemstellung ist, und das hatten wir ja am Anfang schon einmal kurz angesprochen, wir müssen dafür jede Menge Daten sammeln. Ich muss wissen, welcher Mitarbeiter ist in welchen Projekten unterwegs? Welche Fähigkeiten hat er sich dort angeeignet? Mit welchen Kunden hat er welche Tätigkeiten durchgeführt? Mit wem tauscht er sich aus? Was macht der vielleicht auch, wenn er nicht am arbeiten ist. Ist er in anderen Netzwerken? Also all diese Informationspunkte müssen gesammelt und ausgewertet werden, damit ich dem Lernenden sinnvolle Inhalte oder Unterstützungshilfen anbieten kann. Ansonsten kriegen wir nur solche Empfehlungen wie momentan zum Beispiel noch bei Amazon. Da suche ich nach einer Waschmaschine und dann kriege ich 2 bis 3 Wochen, nachdem ich sie gekauft habe, weiter dauernd nur noch Reklame von Waschmaschinen und das ist nicht anschlussfähig und völlig sinnlos! Auch Amazon wird schlauer, aber die gleiche Logik diese Consumer Experience muss von Anfang an in das Lernen etabliert werden. Und da haben wir doch noch so ein paar Barrieren zu überwinden gerade was die Datensammlung betrifft. Wir wollen dem Lernenden nichts Böses und nutzen seine Daten nicht dazu, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Im Gegenteil, wir wollen die Daten sammeln aus einer positiven Menschenhaltung ihm gegenüber, nur so können wir ihn bestmöglich in seiner Entwicklung unterstützen. Das müssen wir digital machen und nicht im 1-zu-1 Coaching, wer sollte das denn bezahlen? Das heißt, wir müssen solche Individualisierungen digital unterstützen und da haben wir doch noch ein paar Schritte zu gehen, bis wir da sind, um eben auch solche LXP-Systeme wirklich zu einem Mehrwert innerhalb von Organisationen in der DACH-Region werden zu lassen.
eLearning Journal: Vielen Dank Jan für den Ausflug in die Welt der Learning Experience Plattformen der Zukunft und wie weit wir da in der Realität sind.
Redaktion: Lars Wicke
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Profil
Jan Foelsing
ist seit 2013 im eLearning Competence Center and der Hochschule Pforzheim (HSPF) tätig. Darüber hinaus ist er Framework Designer, Freelancer und Entrepreneur und beschreibt sich selbst als Digital Native, Querdenker, Chancenseher und Problemlöser. Er kann auf Erfahrungen aus der Praxis, aber auch aus der Forschung zurückblicken und sieht seine Leidenschaft darin, Menschen und Systemen neue Lösungen zu entwickeln.
Literatur
Jan Foelsing / Anja Schmitz:
New Work braucht New Learning
In dieser Neuerscheinung zeigen die Autoren beispielhaft auf, inwiefern sich das Lernen aufgrund aktueller Entwicklungen verändert und legt hierbei besonderes Augenmerk auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Aspekte. Organisationen und deren Entwicklung in den Fokus nehmend, werden Hilfestellungen zur Gestaltung sowohl physisch-analoger als auch digital-virtueller Lernräume gegeben und somit die Entstehung von „Learning Ecosystems“ ermöglicht. Neben Praxisbeispielen ist das Werk mit zahlreichen Experten-Interviews und zwei vertiefenden Praxiskursen angereichert, die ergänzend zur Lektüre über die Plattform iversity absolviert werden können.
ISBN: 978-3-658-32757-6
Verlag: Springer Gabler
Sprache: Deutsch
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Jan Foelsing
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