Resilienz aus Sicht der Organisationsentwicklung

„Die Entstehung von Sinn kann man dem Lerner nicht einprogrammieren“

Prof. Dr. Werner Stork von der Hochschule Darmstadt (h_da) über Neugierde und Resilienz im Lernprozess.

Welche Faktoren beeinflussen unsere Resilienz? Was hat dieses „Neunormal“ damit zu tun? Und verlernen wir im Alter eigentlich die natürliche Neugierde? Prof. Dr. Werner Stork von der h_da findet im Gespräch mit dem eLearning Journal auf diese und weitere spannende Fragen aufschlussreiche Antworten und wagt einen Ausblick auf die Auswirkungen der neuen Normalität auf unsere Lernszenarien.

eLearning Journal: Herr Professor Stork, wie geht es Ihnen mit der digitalen Transformation der Lehre? Sie haben sich ja auch in Corona-Zeiten neu erfinden müssen.

Prof. Dr. Werner Stork: Gute Frage. Das ist situationsabhängig. Mal so, mal so. Das hat auch ein bisschen mit dem Thema Resilienz zu tun. Es gibt so Tage, wo man ein Stück weit auch stolz ist, das hinzubekommen. Und es gibt so Tage, wo man merkt: Ich muss mal durchpusten und mich erholen von gefühlt acht bis zehn Stunden Zoomkonferenzen am Tag. Und es gibt diese Facette, dass man sich denkt: Ja, so ein paar Sachen sind gar nicht so verkehrt am Homeoffice – also ich spare mir pro Tag anderthalb Stunden Reisezeit/Fahrzeit von hier im Taunus bis nach Darmstadt. Das hat natürlich auch seine positiven Facetten bis hin zum Experimentieren, ob man bestimmte Lernprozesse – und einiges klappt da wirklich wunderbar – sogar in dieser hybriden Welt an dieser Stelle besser hinbekommt. So ein bisschen von allem etwas. Das ist eine wilde Zeit, aber teilweise auch toll.

eLearning Journal: Ja, zahme Vögel singen, wilde Vögel fliegen. Was gibt es über die Hochschule Darmstadt zu sagen, das wir uns merken könnten, sollten, müssten?

Prof. Dr. Werner Stork: Ja, wir sind eine von mehreren hunderttausend Hochschulen. Was ist das Besondere? Es ist erst mal eine relativ große Hochschule. Das ist eine Strategie in Hessen, dass die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften relativ groß sind. Wir sind von der Größenordnung her so 16.000/17.000 Studierende. Und 400 Professoren. Neben der Größe, vielleicht auch für Ihr Thema ein Stück weit wichtig – Darmstadt selber ist eine Wissenschaftsstadt, sprich, sehr auf Lernen und Kompetenzentwicklung ausgerichtet. Es ist eine Digitalstadt. Sie haben da einen Bundeswettbewerb gewonnen, wo sehr viele Experimente gefahren werden, um auf verschiedenen Ebenen Digitalisierungsstrategien umzusetzen. Da sind wir als Hochschule irgendwo mittendrin. Und als Forschungs- und Lehreinrichtung irgendwo mitten in dieser Darmstädter Digitalisierungswelt unterwegs. Das ist sicher so ein Punkt, der uns auszeichnet. Wir sind sehr intensiv vernetzt mit der Wirtschaft und der Gesellschaft. Das ist auch ein starker Antrieb von uns als Hochschule selber. Und ein letzter Punkt vielleicht: Wir haben in letzter Zeit sehr viele Projekte gewonnen, wo es um Transformationsforschung geht. Sprich: Wie gelingt eine Transformation von einem Zustand vor der Digitalisierung hin zu einem nach der Digitalisierung? Da würde ich schon sagen, dass es eine ganze Reihe von Kollegen gibt – ich zähle mich so ein bisschen auch mit dazu – die sich da sehr stark mit beschäftigen.

eLearning Journal: Gerade die Nähe zu den Unternehmen ist uns vom eLearning Journal natürlich ganz wichtig. Wie können wir Erkenntnisse aus der Wissenschaft in die Praxis in unsere Arbeit mit übernehmen? Und auf der anderen Seite das Stichwort digitale Transformation, der Einsatz von eLearning in der betrieblichen Bildung. Was ist Ihr persönlicher Arbeitsschwerpunkt in Lehre und Forschung?

Prof. Dr. Werner Stork: Ich arbeite am Fachbereich Wirtschaft der Hochschule Darmstadt und bin dort mit 3-4 Kollegen für das Themengebiet Management und Organisation zuständig. Meine Biografie hat mich eigentlich gar nicht so weit weg von Ihrer Zielgruppe/Community beruflich entwickeln lassen. Ich war zwölf Jahre lang in Banken im HRM und im IT-Bereich für Personalmanagement, Bildung und Weiterbildung zuständig, und auch lange Zeit so eine Art eLearning-Junkie und hatte da größere Projekte. Das hat dann dazu geführt, dass ich eigentlich alle Personalthemen bei uns am Fachbereich verantworte, also Personalmanagement, Leadership und Change Management, das sind die Themengebiete zu denen ich lehre und forsche.

eLearning Journal: Der Zugang zu eLearning in den Unternehmen ist eher schwierig – insbesondere wenn sie mehr als 1000 Mitarbeiter haben wie zum Beispiel DHL mit 500.000 oder Siemens mit über 400.000 Mitarbeitern – da der Akteur, der sich damit beschäftigen muss, keinen Karrierezugang hat, sondern sich autodidaktisch selber dazu fortbilden muss. Wie hängen diese Sachen eigentlich zusammen? Was wirkt da eigentlich, wenn ich eLearning einsetze? Und für heute haben wir uns ja zwei Stichworte aus der Psychologie vorgenommen: einmal ist es Resilienz und auf der anderen Seite ist es Neugierde. Können Sie uns eine Deutung anbieten, was Resilienz für die betriebliche Bildung bedeuten kann oder was sie eigentlich allgemein bedeutet für eine Organisation?

Prof. Dr. Werner Stork: Ich würde gerne mit der Resilienz anfangen, weil wir, so wie wir damit arbeiten, die Neugier aus der Resilienz im späteren Diskurs mit den Projekten sozusagen heraus entwickeln. Resilienz ist definitiv ein sehr schillernder, vielschichtiger Begriff. Es gibt so drei Rs der Resilienz. Das Eine ist das Thema Resistenz, also etwas widerstehen, einem Druck widerstehen, mit etwas zurechtkommen. Wir zum Beispiel waren als Hochschule resistent: Wir haben es mit etwas Wochenverschiebung hinbekommen, dieses Semester durchzuziehen und zwar ungeplant und ad hoc ein Bisemester zu realisieren. Da gibt es die Regeneration – das zweite R nach der Resistenz. Und da könnte man den Bezug zu Ihrer Frage sehen, dass man sich mit den Lockerungen und mit der Zeit und mit dem Zurechtkommen mit dieser Corona-Situation irgendwo auch regeneriert und ein Stück weit zur alten Vitalität, Kreativität, Diskussionsfreudigkeit und Lernfreudigkeit zurückkehrt. Das ist sicher bei jedem unterschiedlich, aber das passiert auch gerade parallel. Ganz wichtig ist, dass man beides betrachten kann. Und das ist auch ein Punkt, auf den ich sehr stark achte: die Organisationsperspektive. Das halte ich für sehr hilfreich, dass man versucht, psychologische Perspektiven auch auf Teams oder Organisationen zu übertragen, weil auch die am Ende eine Persönlichkeit oder Kultur haben. Die Regeneration bringt uns dazu, wieder zum alten Leistungsniveau zurückzukommen. Trotz dieser Widrigkeiten, die wir haben. Im Sinne der drei Rs wäre es die Rekonfiguration. Ja, da kam Corona, das uns erschüttert und wirklich durcheinander gewirbelt hat: Krisensitzungen, ad hoc-Mails, Umorganisation, Lockdown, die Hochschule war geschlossen, kein Student durfte mehr auf den Campus und so weiter. Da ist echt viel passiert, wie bei jedem Unternehmen. Und dann zu fragen nach dem ersten Schock: Wie bauen wir das jetzt wieder zusammen, sprich: rekonfigurieren das, was wir da haben, um trotzdem Hochschule zu sein, um neue Dinge zu machen? In dieser Qualität der Rekonfiguration steckt diese Formulierung drin, sich neu zu erfinden, weil Dinge einfach anders geworden sind. Das passt auch dazu, dass es nie wieder so sein wird wie vor Corona. Es wird ein neues Normal geben, wo wir an dieser Stelle noch nicht genau wissen, was es ist.

eLearning Journal: Lernen hat ja immer mit Reflektion zu tun. Würden Sie sagen, dass wir uns jetzt noch in dieser Phase 1 befinden, dass wir erst mal aushalten und durchhalten müssen oder sind wir schon in der Phase 2, dass wir uns hier schon wieder regenerieren und auf das Neue eingestellt haben, wenn es um das neue Lernen im Betrieb geht?

Prof. Dr. Werner Stork: Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage, weil das dazu führt, dass ich Ihnen erstens zustimme und zweitens aber noch einmal die Chance nutzen möchte, das zu präzisieren. Eigentlich ist es so, dass diese drei Phasen alle zur gleichen Zeit passieren. Und um die Frage direkt zu beantworten: Das hängt von jedem selber ab, was er für sich gerade persönlich in den Vordergrund stellt. Und es gibt so diesen schönen, etwas provozierenden Spruch aus der Resilienzforschung – „In das Verlieren investieren“. Das heißt, ich gebe dem Druck teilweise nach, weil Corona ist da und es gibt einen Lockdown, da kann ich noch so viel versuchen, dagegen zu argumentieren – das wird passieren. Die Qualität der Resilienz ist eigentlich, zu sagen: Ich halte das trotzdem aus, damit zurechtzukommen. Ich versuche mich zu vitalisieren und daraus, was da passiert, zu lernen, es zu verstehen. Also in Kontakt zu bleiben mit diesem extremen Schock, um zu verstehen, was neue Wege sein könnten, sich weiterzuentwickeln. Das wäre dann Investitionsqualität. Und man kann auch so ein bisschen formulieren – „nutze auch diesen Widerstand als Möglichkeit, daraus zu lernen und neue Qualitäten zu finden für neue Konstrukte und Konzepte!“. Also konkret ist es eine integrative Qualität, keine funktionale. Ich bin jetzt nur einmal resilient, weil Corona kommt – das wäre falsch. Ich bin eigentlich dauerhaft resilient und nehme jeden externen Impuls in den drei Dimensionen auf und versuche, etwas damit zu machen.

eLearning Journal: Dieser Weg, auf dem wir uns befinden, auf dem Corona – zumindest in den deutschsprachigen Ländern – ja nur ein Beschleuniger ist, ist ja der, dass von den 33 Milliarden Euro, die deutsche Unternehmen alleine für die betriebliche Weiterbildung in die Hand nehmen, immer noch über 90 % dieses Investments analog sind. Das heißt, es sind von den 33 Milliarden nach Schätzungen gerade mal 1,5 Milliarden, die in eLearning investiert werden. Das hat natürlich mit der Unternehmensstruktur in Deutschland zu tun. Über 90 % sind KMUs und keine 10 % sind die großen Unternehmen, die natürliche organisierte formale Weiterbildung einsetzen. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, was diese Zahlen ja herausgibt, spricht von formaler Weiterbildung. Das heißt, das, was organisiert ist und nicht über die informelle Weiterbildung läuft. Wenn wir uns aber das weltweite eLearning-Budget anschauen, dann sind wir global bei über 350 Milliarden Euro. Also dann ist Deutschland ja gar kein Treiber. Wenn wir uns die globalen Zahlen anschauen, zum Beispiel Charles Jennings , der sagt dass 70 % der Weiterbildung informell, 20 % durch Dialog mit den Kollegen und nur 10 % in formaler organisierter Weiterbildung stattfindet. Das heißt dieser Druck, von dem Sie gerade sprachen, der herrscht dann ja praktisch den ganzen Tag bei der Arbeit. Ich muss also ständig damit umgehen, dass ja von mir erwartet wird, dass ich meine Kompetenzen entwickle. Und ich bin für mich immer in dieser Situation, mich zu fragen, wie viel Widerstandsfähigkeit ich habe oder wie viel ich mich positiv dort dazu öffnen kann. Oder wie viel Kompetenzfähigkeit habe ich überhaupt für meinen Job? Wenn wir uns jetzt diese Kollegen angucken in den Unternehmen, diese Praktiker, die verfügen in den großen Unternehmen zu 50 % noch nicht mal über eine Betriebsvereinbarung zum Einsatz von eLearning. Also richtig freestyle müssen sie das im Stakeholdermanagement aushalten, nach dem Motto: Du, IT, darf ich in den Unternehmens-IT- Strukturen irgendetwas ändern oder: Hey Betriebsrat, darf ich denn hier vielleicht ein Projekt machen, wo vielleicht auch so ein bisschen homöopathisch Learning Analytics mit drin ist? Oder der direkte Vorgesetzten: Sorry, würden Sie das unterstützen, wenn der Lerner am Arbeitsplatz eben auch lernen soll? Die Frage ist ja letztendlich, was und uns die Psychologie damit auf den Weg gibt, wie ich als Akteur hier positiv einwirken kann? Sie haben ja auch ein konkretes Forschungsprojekt dazu – „Alle im digitalen Wandel“ – ein Experimentierraum beim BAS, dem Bundesarbeitsministerium. Wie gehen Sie da mit diesem Thema um? Welche Erkenntnis aus der Forschung können Sie uns mit auf den Weg geben?

Prof. Dr. Werner Stork: Mache ich gerne. Vielleicht ganz kurz: Ich würde auf jeden Fall unterstreichen, wenn man Deutschland und die Welt vergleicht, dass wir im Bereich von Lernen vergleichsweise recht starre und traditionelle Strukturen haben und in dem Sinne ist Corona auch die Möglichkeit für einen gigantischen Sprint gewesen.  Und ich würde ebenso absolut bestätigen, dass ganz viel Lernen eigentlich informell durch Dialogsituationen passiert. Und da ist ganz spannend, sich zu fragen: Was wird nach der Corona-Phase im Sinne von „neues Normal“ eigentlich passieren? Weil, ich könnte mir vorstellen, je nach Situation, Führung und Kultur, dass dort unglaublich viele neue Situationen entstehen können, die wir uns gar nicht vorher hätten vorstellen können in der klassischen deutschen betrieblichen Lernkultur. Also in dem Sinne sehr spannende Phase, wo ich im Sinne von Resilienz einfach sagen würde: Jetzt passiert unglaublich viel Rekonfiguration. Das könnte echt so eine Phase sein, in der – diesem platten Spruch „Krisen soll man nutzen“ zufolge – ganz viel Neues passiert und da würde ich jetzt einfach auch die Community motivieren wollen, gerade jetzt besonders aufmerksam und kreativ zu sein, Neues zu schaffen. Jetzt so ein bisschen zu unserem Forschungsprojekt: Also einmal geht es wirklich darum, dass wir gucken, wie man in dieser neuen Arbeitswelt zurechtkommt. Das ist der Fokus und wir haben den Auftrag für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, uns dieses Thema der Resilienz in Verbindung mit Neugier anzusehen, und zu schauen, wie das Lernprozesse in den Unternehmen fördern kann. Und das Erste, was wir gelernt haben, war, dass den Leuten ganz schnell klar geworden ist, dass es nicht sein kann, dass ich Lernen nur in diesen formalen Situationen habe. Das geht überhaupt nicht. Man kann es jetzt Mindset nennen, Agilität, Resilienz oder wie auch immer. Das wird für die Leute unmittelbar und sofort wichtig und dringlich. Das wäre so eine Lesson learned, die ich weitergeben kann: Je früher du es tun kannst, fang an, über Haltung, Lernen und Kultur zu sprechen! Sonst stößt du mit deinen ganzen Tools und deinen Methoden an die Grenzen. In deinen alten Settings und Strukturen ist das Lernen, wie es notwendig ist, gar nicht wirklich möglich. Das wäre so eine Erkenntnis, die man da betreiben kann. Und dann ist dieses Thema der Resilienz – dass jeder Mensch, jeder Mitarbeiter, jede Organisation und jedes Team eine Möglichkeit hat, sich gesund zu entwickeln, wenn es mit diesen drei Rs sehr gut spielen kann. Die Salutogenese – so wird es in der Medizin und Biologie genannt – ist jetzt ein bisschen ein sperriger Fachausdruck, doch ich mag ihn irgendwie sehr. Es geht um gesunde Entwicklung, sich aus sich selbst heraus gesund zu entwickeln. Man spricht dann von einem Gefühl der Kohärenz. Also Lernen wäre so die Aussage und sich gesund zu entwickeln klappt dann besonders gut, wenn ich kohärent bin, wenn ich mit meinem Kontext gut kommunizieren kann. Das heißt, ich verstehe, was um mich herum passiert – da können Lernmanager unglaublich viel dazu beitragen, Dinge erklärend machen. Und dann das Zweite: das „Ich komme damit klar. Es ist für mich beherrschbar“. Selbstwirksamkeit ist so ein Schlagwort, das man kennt, das unglaublich wichtig ist, um Lernen zu ermöglichen. Die Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen, sich zu öffnen, also Verstehbarkeit, Beherrschbarkeit und dann natürlich die Möglichkeit, für sich persönlich einen Sinn daraus zu definieren. Da sind wir wieder bei solchen wichtigen Elementen wie Partizipation, die Leute einbeziehen in so etwas. Sinn entsteht oft für Leute nicht dadurch, dass er programmiert wird durch einen externen oder zentralen Vorstand, sondern Sinn entsteht aus der Beteiligung an der Aktivität. Dadurch definieren sich die Leute ihren Sinn und generieren ihr eigenes Sinnverständnis, sodass sich dann durch die Art und Weise, wie ich solche Lernsettings aufsetze, in unserem Verständnis auf das Forschungsprojekt zurück, sehr viel tun kann, dass die Leute sich kohärent fühlen. Dass sie dann das Gefühl eines gesunden Lernens heraus entwickeln und dann wären wir bei der Resilienz. Das ist so diese Argumentationslinie. Und jetzt kann man versuchen diese drei Postulate – Verstehbarkeit, Beherrschbarkeit, Sinnhaftigkeit – ganz konkret herunterzubrechen auf konkrete Situationen. Da geht es um neue Tools, die gelernt werden sollen, neue Anwendungen, neue Beziehungen und auch darum, neue Geschäftsmodelle zu gründen.

eLearning Journal: Bevor wir zu dem Feld der Neugier gehen, vielleicht hier noch einmal etwas näher rangezoomt: Sie sprechen ja von Selbstwirksamkeit. Das ist ja ein Schlüsselbegriff. Die Frage ist, was kann ich anregen als Akteur in der Personalabteilung? In welche Richtung kann ich senden? In welche Richtung kann ich hier eine Hilfestellung organisieren oder zumindest anschieben? Ist der Schlüssel die Wertschätzung des Beschäftigten? Oder wo liegen die Schlüssel dazu?

Prof. Dr. Werner Stork: Also Wertschätzung ist sicher ein ganz wesentlicher Punkt. Das Thema „Begegnung auf Augenhöhe“ kann man gar nicht stark genug unterstreichen. Ansonsten, Selbstwirksamkeit hat auch viel mit Wirkung und Tun zu tun. Also die Leute in die Situation reinzubringen und wenn es auch nur kleine Handlungen sind, die auch aus einem vertrauten Kontext heraus kommen können. Das kann eine alleinige Handlung sein an meinem Arbeitsplatz, das kann etwas sein, dass ich mit meinen Kollegen oder meiner Führungskraft mache. Selbstwirksamkeit ist letztlich auch eine sinnliche Erfahrung von einem selbst in seinem Kontext. Und das über Lernmöglichkeiten zu ermöglichen, ist ganz hervorragend. Wir wissen ja aus der Lernforschung, dass der Klassenraum oder Hochschulraum/der Hörsaal vom Setting her nicht unbedingt die beste Lernmöglichkeit ist. Es ist halt ein Element in einer Lernwelt. Und diese anderen Plattformen zu betrachten, wäre dann der Punkt im Sinne von Selbstwirksamkeit.

eLearning Journal: Der Neurobiologe Professor Hüther hat in einem Interview einmal zugerufen, dass der Mensch die meiste Neugierde habe, wenn er ganz klein ist. Er will teilhaben, er will krabbeln lernen. Er will sich entwickeln. Er will mitreden können. Und dieser Prozess kann im Laufe des Lebens dazu führen, dass ich irgendwann nicht mehr neugierig bin. Dass ich als 50/60-Jähriger vielleicht sage: Du, ich kann eh nichts ändern, ich weiß sowieso, wie der Hase läuft. Da kann ich keinen Einfluss drauf nehmen. Welche Rolle spielt Neugierde für den Lernprozess aus Ihrer Sicht?

Prof. Dr. Werner Stork: Also Neugierde ist für den Lernprozess unglaublich wichtig. Deswegen verbinden wir in unseren Experimentierräumen ja auch die Resilienz mit der Neugier. Und je nachdem, wie man das aufbereitet, braucht die Neugier die Resilienz als Basis, diese Stabilität und Selbstwirksamkeit, um sich kohärent zu fühlen. Ich würde dieser Beobachtung von Hüther zustimmen, ich würde aber dagegen halten, dass ich sage, dass es eine Notwendigkeit ist. Also wir erleben jetzt gerade die Formulierung „ich weiß, wie der Hase läuft“ – nur ist das ja leider nicht mehr so. Ich habe als Hochschulprofessor vor acht Jahren angefangen, da gab es dieses Thema eLearning oder Zoom oder solche Geschichten noch gar nicht so stark. Und ich wurde noch darauf hingewiesen und trainiert und habe mir Mühe gegeben, Vorlesungen zu halten. Wenn ich jetzt heute auf meinen Arbeitsalltag gucke, auch schon vor Corona, halte ich gerade mal noch eine Vorlesung. Der Rest sind Seminare und forschendes Lernen, Experimente und ähnliche Geschichten eben in Unternehmen. Das heißt, der Hase lief früher auf klassische Vorlesungen oder Classroom Learning, klassische WBTs hinaus. Aber der Hase läuft ja heute anders. Und dann kann ich auf der einen Seite im Sinne von Resilienz sagen, ich halte das aus und mache meine Nische weiter. Ich kann im Sinne von Resilienz auch sagen: Hm, eigentlich bin ich ja wirklich gerne Pädagoge und Forschender, ich möchte das mit meinen Studierenden auch teilen. Wenn jetzt der Hase aber anders läuft, dann gibt es vielleicht einen Punkt, wo ich mich dann wieder dahingehend rekonfigurieren kann, meine Leidenschaft für Forschung, Pädagogik und Studierende auf anderem Wege und mit anderen Medien umzusetzen. Ich will damit sagen, dass ich nicht daran glaube, dass es so sein muss, dass die Neugier im Laufe der Zeit/des Alters abnehmen muss, wenn der Kontext – und das erleben wir gerade beim Stichwort VUCA-Welt – hinreichend vielfältig und lebendig ist. Und zweitens eine innere Qualität bei den Leuten ist im Sinne von Resilienz, mit diesen Veränderungen auf eine gesunde Art und Weise umzugehen. Als Firma heißt das umgekehrt, dass wenn ich neugierige Mitarbeiter haben möchte, ich dafür sorgen sollte, dass erstens der Kontext nie zu sehr eingefahren ist und zweitens, dass ich meinen Mitarbeitern das angesprochene Kohärenzgefühl versuche zu vermitteln. Und dann bin ich da bei ganz handfesten Handlungen wie: Was biete ich ihnen als Lernmöglichkeiten an? Da bin ich beim einzelnen Mitarbeiter. Was tue ich auch Gutes, damit er sich mental und physisch gesund fühlt – Stichwort Salutogenese? Da bin ich aber auch beim Verhalten der Führungskraft. Sie kennen solche Schlagworte wie die „Führungskraft als Coach“, dienende Führungskraft und so weiter und so fort. Da kann man jetzt sagen, dass dies ein reines Buzzword ist. Aber dahinter steckt natürlich schon diese Qualität, dass ich versuche, die Mitarbeiter in der Welt, in der wir leben, in der Resilienz zu halten. In der Möglichkeit, mit externen Veränderungen umzugehen. Und das ist viel wichtiger als Anweisungen zu geben und zu kontrollieren, die Mitarbeiter kohärent zu halten im Kontext, damit sie selber damit umgehen können. Führungskräfte können unglaublich viel tun, dass Leute sich wohl und aufgehoben fühlen und mit den Veränderungen zurecht kommen an der Stelle. Es gibt ja nicht umsonst ganz viele Firmen – was ich sehr positiv beobachte -, die weggehen von diesen Einzelmitarbeiter-bezogenen Zielen hin zu Teamzielen, weil sie sagen: Am Ende ist es das Team, was die Leistung erbringt und ich kann gar nicht so stark, wie das früher gedacht wurde, Einzelleistungen separieren von Leistungen anderer Personen. Es ist viel zu sehr vernetzt und verzahnt, was da passiert. Also ich gucke auf das Team und nicht die einzelnen Mitarbeiter. Nächster Punkt: Ich hatte die Mitarbeiter angesprochen, die Führungskräfte, das Team. Eine Organisation kann auch durchaus viel dafür tun, dass sie Räume und Zeiten schafft, wo diese Neugier ausgespielt werden kann. Wir alle erinnern uns so ein bisschen, wie wir Fahrrad fahren oder Schwimmen gelernt haben. Wenn man es kann, vergisst man das nie wieder, auch wenn man jahrelang nicht Fahrrad gefahren ist. Aber in der Zeit vorher war das so, dass man ganz lange probiert hat und da hat der Vater/die Mutter geholfen mit Stützrädern oder ähnlichen Geschichten. Diese Experimentierräume, neue Techniken wie das Fahrrad – heute ist es die KI-Technologie oder was auch immer – zu probieren und erst mal Unfälle machen zu dürfen, weil es nicht wehtut und weil es im geschützten Experimentierraum ist, das ist, glaube ich, unglaublich wichtig für die Neugier der Leute. Und ich behaupte, die ist vom Grunde her immer noch da. Es geht darum, diese auch möglich zu machen. Dieses Bild von Herrn Hüther: Warum sind Kinder so lernfreudig? – Weil sie behütet sind, weil sie diese Schutzräume haben. Und nicht sofort Leistung bringen müssen. Deshalb war die Möglichkeit vorhanden, als Kind so viel zu lernen. Und dieses Bild zu übertragen in bestimmte Innovation Labs, Lernwerkstätten, Experimentierräume in Firmen, wäre ein weiterer Faktor, um die Neugier im Unternehmen hochzuhalten.

eLearning Journal: Das heißt im Umkehrschluss, dass wenn das eLearning im Betrieb den Charme eines Wohngeldantrags hat und wenn Lernzeit keine Arbeitszeit ist, braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn der Mitarbeiter sagt: „Change mich am Arsch!“.

Prof. Dr. Werner Stork: Ja, das ist so. Das ist eine Sache, die ich persönlich auch sehr klar gelernt habe und die ich in den acht Jahren an der Hochschule immer klarer sehe: dass wir gucken müssen, aus welcher Perspektive, aus welcher Rolle heraus wir versuchen, Lernen zu unterstützen – und die Rolle und Perspektive würde ich sagen ist das Wichtigste. Das Tun kann noch so smart und aufbereitet oder designt sein. Lernen ist immer eine Beziehung. Lernen ist immer auch eine Emotion, die damit verbunden ist. Und wenn da die Perspektive und Rolle irgendwie ein bisschen schräg ist, auch ohne dass man es selber möchte, dann hat man diese Situation, dass es irgendwie Kontrolle oder ein Muss oder ein Zwang ist und irgendwie gemessen wird. Dann ist es schwierig, diese Qualität von Lernen, die ich gerade versucht habe zu beschreiben, aufrecht zu erhalten. Und es gibt so eine Reihe von Unternehmen, von denen ich finde, dass die das ganz smart machen. Die sagen, es gibt natürlich auf der einen Seite dieses Compliancelernen wie Produktinformationen – das ist so ein bisschen, wie wenn du auf Fußball oder Sport schaust, der Schiedsrichter. Und dann hast du aber die andere Truppe, das ist entsprechend der Trainer, der auch aus einer anderen Perspektive auf das Spiel einwirkt. Beide brauchst du eigentlich. Und ich glaube, es ist einfach gut zu sagen, dass ich bestimmte Formen des Lernens trenne. Die, die eher formalistisch und compliancegetriggert nötig sind und diejenigen Formen des Lernens, die eher explorativ sind, die was Neues entwickeln sollen, die vielleicht auch den Spirit von Leistung und Lernen in Verbindung bringen mit ethischen Geschichten. Achtet auf die Rolle, aus der man die Leute adressiert!

eLearning Journal: Wunderbar, tolles Schlusswort! Vielen Dank Herr Professor Stork.

Redaktion: Jacob Sablotny

Beitragsbild: AdobeStock – Kirill


Profil

Prof. Dr. Werner Stork

ist seit dem Jahre 2013 Professor für Management und Organisation an der Hochschule Darmstadt. Seine Tätigkeit- und Arbeitsschwerpunkte liegen hier im Personalmanagement, Leadership und Change Management. Stork begleitet als Berater strategische Projekte bei Veränderungs- und Transformationsprozessen, fungiert als Coach in Führungskräftetrainings und Veranstalter von Fachtagungen und Workshops. Er ist zudem Herausgeber und Fachbuchautor zu Themen der digitalen Transformation. (siehe „Literatur“).

 


Literatur

Werner Stork / Artur Mertens / Klaus-Michael Ahrend / Anke Kopsch:

Smart Region – Die digitale Transformation einer Region nachhaltig gestalten

Das Fachbuch nimmt den regionalen Wirtschaftsraum und seine Entwicklungen hin zu einer „Smart Region“ in den Fokus. Hierbei werden Schwerpunkte auf ökonomische, ökologische und soziale Kriterien gelegt. Entsprechende Maßnahmen und Aktivitäten zur Smart Region-Entwicklung spielen ebenso eine wichtige Rolle in dem Band wie Nachhaltigkeitsaspekte. Zudem kommen renommierte Experten aus Wissenschaft und Praxis zu Wort. Best-Practice-Beispiele und regionale Perspektiven runden das Werk ab und regen zum Nachdenken an.

 

ISBN: 978-3-658-29725-1
Verlag: Springer Gabler; 1. Auflage 2021
Sprache: Deutsch

Zudem empfehlen wir als weiterführende Literatur “Beschäftigte in der digitalen Transformation – Möglichkeiten des arbeitsintegrierten informellen Lernens” von Werner Stork, Pia Sue Helferich, Thomas Pleil.


Kontakt

Prof. Dr. Werner Stork
Hochschule Darmstadt

www.h-da.de