Augmented Reality aus Sicht der Wirtschaftsinformatik

„Wir haben den Hardwarekampf verloren, aber…“

Prof. Dr. Oliver Thomas vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) über den Einsatz erweiterter Realität in der betrieblichen Bildung.

Handelt es sich bei AR lediglich um einen Hype? Was unterscheidet die virtuelle eigentlich von der erweiterten Realität? Und für welche Betriebsgröße kommt sie überhaupt in Frage? Prof. Dr. Oliver Thomas findet im Gespräch mit dem eLearning Journal auf diese und weitere spannende Fragen aufschlussreiche Antworten und spannt zudem gekonnt den Bogen zur Relevanz des deutschen Forschungsstandortes in puncto AR-Technologien.

eLearning Journal: Herr Thomas, Sie sind verortet im DFKI, wofür steht das DFKI und welche Handlungsfelder bearbeiten Sie dort?

Prof. Dr. Oliver Thomas: DFKI steht kurz für Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Das ist eine mittlerweile sehr bekannte Institution mit 1000 Mitarbeitern, die sich rund um das Themenfeld KI kümmert. Sehr breit aufgestellt mit vielen unterschiedlichen Wissenschaftlern und mit einem Standortkonzept. Denn neben den Standorten, die ich jetzt beispielsweise aus Osnabrück betreue – Niedersachsen, meine Heimat, gibt es Niederlassungen in Saarbrücken, Kaiserslautern, Bremen, aber auch Berlin. Die Themen sind sehr vielfältig. Es geht um Musterbilderkennungsstrukturen, Data Analytics, die Anwendung von KI und das vor allem auch in Unternehmen. Und das ist eine Schnittstelle, die ich sehr gerne betreue. Das heißt, bei mir geht es nicht darum, die beste Technologie oder Algorithmus zu vergleichen, sondern tatsächlich das auch damit zu verknüpfen, zu untersuchen, welche Voraussetzungen denn ein Unternehmen haben muss, um KI basierte Assistenzsysteme beispielsweise zu entwickeln und wie diese Voraussetzungen in den Unternehmen auch umzusetzen sind. Das hat ganz viel mit Organisation, Daten und Verantwortlichkeiten der Menschen im Unternehmen zu tun. Und das bezeichne ich als Smart Enterprise, also das „intelligente Unternehmen“. Und das verbinden wir mit einem Engineeringansatz. Also wir entwickeln und konstruieren systematisch. Und deshalb heißt die Gruppe in Osnabrück „Smart Enterprise Engineering“.

eLearning Journal: Aber Sie beschäftigen sich eben auch mit Augmented Reality. In der betrieblichen Bildung sind die Akteure, die für die digitale Transformation der betrieblichen Bildung zuständig sind, natürlich enorm gefordert sich zu orientieren: AR, VR, MR prasselt auf die Kollegen ein in den Weiterbildungsabteilungen. Bieten Sie uns doch einmal eine Begriffsdefinition an von Augmented Reality!

Prof. Dr. Oliver Thomas: Ja, also kurz würde ich es einfach nur übersetzen als „erweiterte Realität“. Wichtiger als vielmehr sich vorzustellen, was es im Einzelnen bedeutet, ist vor allem, es von der Virtuellen Realität, also von VR abzugrenzen. Und vielleicht auch einmal kurz den Begriff Mixed Reality einzuordnen. In der Regel geht man von einer Art Kontinuumperspektive aus: Man fragt sich, blende ich etwas in eine reale Umgebung ein, unabhängig von der Frage, mit was ich das genau tue. Also mit einem mobilen Endgerät oder auch sehr modern mit einer Smartglass. Oder aber tauche ich selbst als Mensch mit einer Technologie entweder in einen Raum, in eine Projektion oder mit einer VR Brille vollständig in eine virtuelle Umgebung ein. Diese Dinge sind zunächst unabhängig von der Technologie, unabhängig des Interaktionsgrades, den ich als Nutzer erzielen möchte. Und in diesem Kontinuum, vor allem in Bezug auf Augmented Reality, muss man eben auch den Anwendungsfall unterscheiden, wie viel von der Einblendung brauche ich an einer Stelle und soll diese beispielsweise von dem, was ich sehe, was das System potentiell erkennt, abhängig sein, also kontextsensitiv gemacht werden, vielleicht sogar sehr stark von der Objekterkennung vorangetrieben werden? Und das hat sehr viel Potential in der betrieblichen Bildung, vor allem deswegen, weil viele Aspekte in dem beruflichen Umfelde tatsächlich auch vor Ort in einer lokalen Situation, beispielsweise bei der Erbringung von Services, angewendet werden. Und wenn dann Einblendungen aus einem Wissensfundus an einer Anlage möglich sind oder sich vielleicht sogar über die Technologie jemand aus dem Backoffice hinzuschalten kann, kommt das gut an, aber entscheidend ist eben tatsächlich zu prüfen: Wie viel von dieser Erweiterung der Realität brauche ich in meinem tatsächlichen Kontext?

eLearning Journal: Haben Sie vielleicht einige praktische Anwendungsbeispiele für die Kollegen in den Unternehmen, wie so etwas aussehen kann?

Prof. Dr. Oliver Thomas: Zunächst gilt einmal auch bei uns in den Projekten immer, dass das Digitale immer nur Mittel zum Zweck ist. Das Digitale ist nicht dazu da, beispielsweise analoge Elemente grundsätzlich zu ersetzen. Wenn ich in ein Unternehmen reinkomme und es gibt eine etablierte, sei es nicht digitalisierte Lernlandschaft von Elementen und Strukturen, auch papierbasierten Dokumenten, dann muss ich die nicht mit einer virtuellen oder erweiterten Realität ersetzen, sondern ich kann beispielsweise eine Ergänzung dieser Elemente dadurch leisten, indem ich diese Dokumente vertagge, also mit Codes versehe und aber das klassische Element sozusagen in eine Erweiterung springen lasse. Und hier erhält der Nutzer dann Zusatzinformationen. Typisches Beispiel, das auch mit mobilen Endgeräten sehr gut umsetzbar ist – ich halte mein mobiles Endgerät, was auch immer es sei, auf diesen Tag/Code und ich springe in diese Zusatzanwendung. Das heißt, ich kann sehr einfach Informationserweiterung zu bestehenden Dokumenten mit einer AR-Anwendung umsetzen. Und ein zweites schönes Beispiel, wo es etwas technischer wird, zu dem wir auch sehr stark geforscht haben, sind die Smartglasses, die ja eigentlich sehr stark auch durch den Google-Fauxpas in der Kritik waren. Google hat ja nach der Einführung wieder zurückgezogen und dann die Smartglass später wieder als Entwicklungskonzept in den Markt geworfen. Aber die untersuchen sehr stark, wie beispielsweise technische Kundendienstleistungen durch Smartglasses oder generell Augmented Reality unterstützt werden können und in dieser Verknüpfung beispielsweise mit den Wearable-Technologien wird natürlich ein tolles Element daraus, weil ich verbinde ja plötzlich nicht nur die Technologie Augmented Reality mit dem, was sie kann, sondern tatsächlich auch mit Vorteilen, die den Mensch betreffen, beispielsweise durch das freihändige Arbeiten. Das ist unter anderem bei der Nutzung von mobilen Endgeräten nicht der Fall, obwohl die Einblendung selbst mit mobilen Endgeräten viel performanter möglich ist als mit den kleinen Datenbrillen. Aber an diesen Vorteilen oder an diesem kleinen Beispiel merkt man schon, dass man relativ schnell auf tolle Anwendungsfälle kommt, die auch tatsächlich heute bereits bei Unternehmen in der Anwendung sind.

eLearning Journal: Sie führen ja ganz konkrete Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu diesem Thema durch, können Sie uns berichten, womit Sie da konkret beschäftigt sind?

Prof. Dr. Oliver Thomas: Im Prinzip habe ich mit dem letzten Beispiel bereits eines der Projekte erwähnt. Das Projekt Glassroom. Und den Raum haben wir mit Anbietern des Maschinen- und Anlagenbaus einerseits, aber auch der Landtechnik mit speziellen Smartglasses zur Unterstützung von Kundendienstleistungen einsetzen können. Wir haben das so aufgesetzt, dass die Elemente der eigenen Weiterbildungseinheiten auf diese Glass zunächst einmal ausgeliefert werden. Das ist auch der normale Kontext, das heißt, ich mache mal ein Beispiel: Bei einem Serviceprozess Instandhaltung oder Wartung, wird der Mitarbeiter durch eine Prozesssteuerung angeleitet, die ist natürlich einfach gehalten, weil die Einblendung in das Sichtfeld des Nutzers relativ klein ist, die muss deshalb konzentriert und systematisch aufgearbeitet werden und wird mit einer Prozesssteuerung durchgeführt. Also blenden wir diese Information ein. Dann haben wir in dem Projekt gemerkt, dass das anders aber nicht für jeden Anwendungsfall gilt: Dann natürlich, wenn der Hersteller auf seine Daten/Konstruktionsdaten, vielleicht auch Serviceprozesse, permanent zugreifen kann, ist das der einfachere Fall. Wenn aber ein Dienstleister, der für mehrere Unternehmen unterwegs ist, das ist beispielsweise häufig im technischen Kundendienst der Sanitär-/Heizung- und Klimabranche der Fall, dann hat er diesen Zugriff fast nicht und ist vielleicht dazu angehalten, diese Informationen über Experten vor Ort zu erheben. Also drehten wir den Spieß im sprichwörtlichen Sinne um und haben die Technologie der Smartglasses, also nicht nur das Thema AR, sondern beispielsweise auch die Sprachsteuerung, die Nutzung von Video- und Bilddokumentationen dazu genutzt, während der Prozessausführung, den Ablauf zu erheben und ihn zurückzuspielen in die eigenen Weiterbildungseinheiten. So bauen wir diese Forschungsprojekte auf, nutzen einerseits diese Technologie, verknüpfen sie aber sehr stark dann mit verschiedenen Elementen, sodass ein gesamtes Bild für ein neues, digitales Geschäftsmodell entsteht. Das zweite Projekt, das ich noch erwähnen würde, wäre vielleicht Glasshouse, zu dem dieser Tage auch ein neuer Band bei Springer erscheinen wird und auch mit der Perspektive auf die Unterstützung von Logistikdienstleistungen. Dort haben wir den eben genannten Sprung vom Maschinen- und Anlagenbau und den Landtechnikherstellern in die Logistik, beispielsweise die Lagersteuerung, verlegt. Die Beispiele sind so trivial, dass man zum Teil nicht darauf kommt. Aber die Verknüpfung ist einfach dort gegeben, wo ein Mehrwert entsteht, indem ich eine Einblendung in ein Sichtfeld umsetze, beispielsweise haben wir das zum Aufbau von Werbedisplays im Rahmen von Logistik-dienstleistungen im Einzelhandel gemacht. Mitarbeiter bauen dort die Displays auf, also unterschiedliche Produkte werden unterschiedlich platziert, saisonal abhängig. An Ostern sieht der bunte Karton etwas anders aus wie an Weihnachten. Das mag zunächst trivial klingen, aber für Mitarbeiter, ist das sehr schwer zu erfassen in der Veränderung. Für einen Computer/Rechner, ist das kein Problem. Diese Einblendung variiert also sozusagen sehr stark und die Nutzung dieser Technologie leitet die Mitarbeiter dann dabei beim Aufbau der Displays an. Eine total einfache Anwendung, also es ist kein Rocket Science, es ist wirklich sehr einfach umzusetzen. Aber durch den Anwendungsfall und die Klarheit der Anwendung wird dann etwas daraus. Und das haben wir im dem Projekt Glasshouse umgesetzt. Beides sind dann, in der Regel, geförderte Projekte vom BMBF.

eLearning Journal: Wie sieht Ihre Prognose für den Standort Deutschland und AR in der betrieblichen Bildung aus?

Prof. Dr. Oliver Thomas: Also, es zieht unheimlich stark an. Bei AR und VR wie vielen weiteren Technologien gilt jedoch, dass wir den Hardwarekampf verloren haben. Das, was wir nutzen, wird in Übersee, Asien, USA und wo auch immer hergestellt und das ist natürlich für den Standort Deutschland sehr schlecht. Man muss auch aufpassen, dass wir solche Modelle zukünftig stärker abfangen. Ich denke aber, dass wir umgekehrt noch eine sehr gute Chance haben. Das habe ich in Teilen auch schon angedeutet. Nämlich mit diesen Hardwarekonzepten, also mit mobilen Endgeräten, den Smartphones vielleicht, vielleicht auch den Smartglasses, den VR-Brillen, eben auch digitale Geschäftsmodelle umzusetzen und das konsequent zu tun. Und das in einen Ansatz zu bringen, der die dahinter liegenden Dienste eben wie Services wieder in den Vordergrund rückt. Also das, was wir neudeutsch als Smart Service bezeichnen, in ein Konzept einzubetten. Also mir ist es lieber, zu akzeptieren, dass die Endgeräte woanders hergestellt werden, aber die digitalen Geschäftsmodelle damit noch umzusetzen sind. Und das rücken wir deswegen auch sehr stark in den Fokus. Was die Gesamtentwicklung angeht, ist es total interessant, die Veränderung des Gartner Hype Cycles zu beobachten. Da gibt es ja diesen berühmten Weg über den Hype Cycle in den Weg der Enttäuschungen und wieder raus und da ist ja AR und VR im Übrigen nach wie vor von Gartner sehr stark eingeordnet. Sprich: Es wurde mittlerweile überhypet, aber jetzt in den konkreten Umsetzungen, gelangt es aus dem Bereich der Enttäuschungen langsam wieder heraus. Und tatsächlich ist das der Fall. Das heißt wir haben jetzt den Status quo, wo vor allem AR in zahlreichen sinnvollen Bereichen wie Medizin, die eben genannten Beispiele von mir – Servicebereiche/Maschinenanlagen/Logistikanwendungen, in Teilen bereits etabliert sind. Aber nur bezogen auf den konkreten Anwendungsfall, also dann wenn es auch wirklich passt. Also ich bin der absoluten Überzeugung, dass sich die Thematiken noch weiter durchsetzen werden, das sehe ich im Übrigen sehr stark bei dem Thema AR versus VR. VR wird ja stark aus dem privaten Umfeld getrieben, durch den Gamingmarkt. Dann zieht ja oft das unternehmerische Feld hinterher. Aber AR wird noch Einiges nach sich ziehen. Vor allem aber nicht deswegen, weil die Technologie besser wird, sondern weil ich glaube, dass die Integration in weitere Elemente, Methodenverfahren, auch in andere Technologien, einen Mehrwert bringt. Also dann, wenn Objekterkennung plötzlich intelligent funktioniert, macht das Nutzen einer Smartglass mit einer Backofficeverbindung plötzlich einen ganz anderen Sinn, wie wenn ich noch kompliziert die Prozesse ansteuern muss. Und insofern glaube ich weniger an die Entwicklung einer Einzeltechnologie als an die Verknüpfung dieser Technologien, die dann eben zu neuen Geschäftsmodellen führen. Aber AR ist ein Themenfeld, da wird noch Einiges auf uns zukommen.

eLearning Journal: Akzeptanz ist in der betrieblichen Bildung ja ein wichtiges Stichwort. Der Betriebsrat ist ein Stakeholder, aber es gibt ja eine ganze Menge Interessenvertreter, die in diesem Prozess mitzunehmen sind, beispielsweise die obere Führung. Die Akzeptanz bei der oberen Führung heißt natürlich nicht zuletzt auch: Wie viel Geld brauchen Sie? Was kommt hinten raus? Der Ansatz von Augmented Reality ist von der Fantasie her natürlich in großen Unternehmen eher vorstellbar, wo auch mehr Geld für Trial und Error zur Verfügung steht, aber wie klein darf ein Unternehmen sein, um auch Augmented Reality als Lösung ins Auge zu fassen?

Prof. Dr. Oliver Thomas: Da sind eigentlich der Größe keine Grenzen gesetzt. Wir arbeiten im Standard nicht nur mit Mittelständlern, sondern auch mit KMU zusammen. Zum Beispiel hat Klima Becker, mit uns am Standort Saarbrücken, Technologien ausgetestet, genau für diesen genannten Fall, nämlich den Einsatz der Smartglass und weiterer AR-Technologien im Technischen Service. Ich kann jetzt die Anzahl der Servicetechniker dort im speziellen Bereich nur schätzen, aber ich glaube es sind etwa 100, das heißt also, nach unten wird dieser Fall auch schon möglich. Die Frage dabei ist, wo kommt das System her und wer baut es mir? Also wenn ich diese Struktur natürlich in einen Standard bringen kann und das auch mit einem adäquaten Preis und dies mit der Zusammenführung der Service- und Prozessinformation für das KMU verknüpft wird, dann kann ich das natürlich einsetzen. Aber für Kleinstunternehmen, ist das meines Erachtens aktuell noch nicht umsetzbar, sondern das beginnt ab einer kritischen Masse und skaliert natürlich über die Anzahl der Fälle, die ich betreuen darf. Das ist total spezifisch und hat tatsächlich nicht nur etwas mit der Unternehmensgröße zu tun, beispielswiese haben wir auch viele Partner und Unternehmen, die selbst bereits einen Innendienst im Bereich der Serviceleistungen betreuen. Durchaus gibt es da große Hersteller im Bereich der Heizung- und Klimatechnik mit bis zu 100 Mitarbeitern im Innendienst. Die haben ja nicht nur ein Interesse daran, beispielsweise Informationen auf ein mobiles Endgerät und ein Smart-glass von dem Außendiensttechniker zu schalten, sondern dem Innendiensttechniker mit dem Außendiensttechniker zu vernetzen. Das hat zunächst einmal nichts mit der Einbindung von Informationen zu tun, aber aus der Verknüpfung wird etwas, denn der Innendiensttechniker kann wiederum Informationen weiterleiten, den Menschen vor Ort anleiten und entsprechend durch die Technologie wieder freihändig dann für den Außendiensttechniker Informationen austauschen. Und in dieser Kombination, der Abwägung auch des jeweiligen Anwendungsfalls oder der Situation des Unternehmens, die bereits vorstrukturiert ist, dort muss man diese Geschäftsmodelle dann suchen. Also in Teilen von der Größe abhängig, aber viel stärker eigentlich vom entsprechenden Kontext.

eLearning Journal: Schönes Schlusswort! Vielen Dank Herr Thomas, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

Redaktion: Jacob Sablotny

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Was ist Immersives Lernen?

Ins kalte Wasser springen und tief darin eintauchen. So könnte man die Immersion, oder auch das Immersive Lernen, in einem einzigen Satz beschreiben. Doch was sich hinter diesem Bild in Gänze verbirgt, geht weit über den Sprung hinaus. Vielmehr handelt es sich bei der Immersion – Wortursprung aus dem Englischen, als „Eintauchen“ oder „Vertiefung in eine Sache“ zu übersetzen – im Fremdsprachenerwerb um das wohl weltweit erfolgreichste und das am gründlichsten erforschte Sprachlern- und -lehrverfahren. In diesem Zusammenhang ist, speziell im Kindesalter, das interessante Phänomen zu beobachten, dass eine fremde Sprache vom Kind nicht bewusst erlernt wird, sondern sich aus der sprachlichen Umgebung heraus entwickelt und ihre Bedeutung aus der jeweiligen Situation erhält.

Man könnte auch sagen: Das Kind lernt die Sprache, indem es „einfach drauf losplappert“. Auch von (jugendlichen) PC-Spielern ist der Effekt bekannt, dass diese sich erschrecken, wenn man den Raum betritt, da die virtuelle Spielewelt derart vereinnahmend sein kann, dass sie sich die Realität selber ausgesperrt habe.

Die Mechanismen? (Fast) altersunabhängig.

Und bei Erwachsenen: Wie lässt sich das Phänomen der Immersion in der Erwachsenenbildung einsetzen? Kann es auch hier so effektiv zur Anwendung kommen, obwohl mit zunehmender Adoleszenz ja auch Hemmungen einhergehen, die die einstige kindliche Unbeschwertheit verdrängen? Aktuell begegnet uns diese Terminologie hauptsächlich im Zusammenhang mit Augmented Reality- und Virtual Reality-Anwendungen. Hier wird bereits durch die häufig notwendige Technik in Form von Smart Glasses die Realität zugunsten der künstlichen Umgebung ein Stück weit verdrängt. Bekannt sind dem ein oder anderen möglicherweise die kuriosen Internetvideos, bei denen AR-Neulinge erstmals eine Videobrille tragen, aufgrund der Spielsteuerung oder aufgrund von realistischen, doch illusorischen Schreckensmomenten wild um sich schlagen und dadurch das Wohnzimmer unfreiwillig ein wenig umgestalten. In diesen Fällen ist die Immersion derart intensiv, dass die Mitmenschen, die Umgebung und die gesamte Realität für einen kurzen Momenten für den Spieler nicht mehr existent erscheinen.

Wenn man nun den Anwender mit AR und VR derart vereinnahmen kann, dann dürfte sich der Immersionseffekt doch auch für Lernprozesse Erwachsener hervorragend eignen. Schließlich ist die Hingabe zu einem Lernstoff eine Grundvoraussetzung für Wissenserwerb. Und tatsächlich: Durch rasante Entwicklung beispielsweise von 3D-Displays, die Augmented Reality-Inhalte auf gängigen Smartphones und ähnlichen Endgeräten darstellen können, können zunehmend auch breitere Nutzergruppen mit der Immersion in Kontakt kommen und auch kleinere Betriebe, die bisher die hohen Kosten spezieller Hardware scheuten, AR und VR in der Weiterbildung ihrer Mitarbeiter einsetzen.

Virtuelle und physische Realität verschmelzen

Beim Lernen verhält es sich ähnlich wie bei Profisportlern und dem Verhältnis zwischen Training und Wettkampf: Man kann noch so viel trainiert haben – der Wettkampf ist dann doch nochmals eine andere Situation. So auch beim Lernen: Lernsituationen jeglicher Art sind letztlich stets ein Abbild der zu erlernenden Situation oder Kompetenz und weisen naturgegeben immer den Charakter einer Lerneinheit auf. Diesen zu verschleiern gelingt, je nach Methode, Szenario und Instrument, mal mehr und mal weniger gut. Und hier kommt die Augmented Reality, die Arbeitsgeräte, -abläufe und -situationen hautnah und greifbar simuliert, der realen Berufspraxis wohl noch am nächsten. Die Grenze zwischen absolvierter Trainingssimulation und zu erlernender Alltagssituation verschmilzt somit zunehmend und entführt den Lerner in eine als Realsituation wahrgenommene Trainingssituation: Der Lerntransfer gelingt im Idealfall so effektiv wie bei dem eingangs erwähnten Kind, das die Sprache durchs Sprechen lernt.

Und dies ist dann auch die Eigenschaft, die Immersives Lernen in der betrieblichen Erwachsenenbildung zu einem wirksamen, leistungsstarken und vor allem vielfältig einsetzbaren Lernverfahren macht – nicht das Rezipieren, sondern das Eintauchen in das jeweilige Lernszenario.


Profil

Prof. Dr. Oliver Thomas

war bis zum Jahre 2009 Senior Researcher und stellvertretender Forschungsbereichsleiter am Institut für Wirtschaftsinformatik (IWi) im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken. Anschließend nahm er eine Professur des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften in den Themengebieten Informationsmanagement und Wirtschaftsinformatik an der Universität Osnabrück an, in der er bis heute tätig ist. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Business Process Management, IT Governance und Mobile & Wearable Information Systems. Zudem fungiert Thomas als Autor und Herausgeber diverser Fachbücher (siehe „Literatur“).


Literatur

Oliver Thomas / Ingmar Ickerott:

Smart Glasses: Augmented Reality zur Unterstützung von Logistikdienstleistungen

Das Fachbuch gibt einen Überblick über die Konzeption und Entwicklung von Smart-Glasses-basierten Anwendungen für die Logistik. Bei Smart Glasses handelt es sich um digitale Brillen, die dem Träger visuelle Zusatzinformationen im Sichtfeld einspielen können. Durch diese AR-basierten Endgeräte kann, so zeigen die Autoren auf, bisher nicht ausgeschöpftes Dienstleistungspotenzialen gehoben werden. Oliver Thomas ist Mit-Herausgeber und Autor des 234-seitigen Fachbuchs, gemeinsam mit einem Professoren-Kollegen der Hochschule Osnabrück.

 

ISBN: 978-3-662-62152-3
Verlag: Springer Gabler; 1. Auflage 2020 (15.10.2020)
Sprache: Deutsch


Kontakt

Prof. Dr. Oliver Thomas
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Stuhlsatzenhausweg 3
D-66123 Saarbrücken

Tel.: +49 (0) 541 / 386 050 48 30

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