Agiles Lernen aus Sicht der Organisationspsychologie

„Digitale Transformation bedeutet zunächst Abbau von Ängsten“

Prof. Dr. Nele Graf von der Hochschule für angewandtes Management (HAM) über individuelle, Lerner-orientierte Didaktik in der betrieblichen Bildung.

Wie kann das Lernen in Betrieben agiler werden? Welche Formen der internen Zusammenarbeit sind hierfür nötig? Und welche Benefits zieht ein Arbeitnehmer eigentlich aus Agilem Lernen? Diesen und viele weiteren spannende Fragen stellt sich die Betriebswirtschaftlerin und Psychologin Prof. Dr. Nele Graf von der HAM im Gespräch mit dem eLearning Journal und zeigt realitätsnah auf, welche kleinen Stellschrauben im Unternehmen bereits Großes bewirken können.

eLearning Journal: Frau Professor Graf, Sie sind Professorin an der Hochschule für Angewandtes Management. Womit beschäftigt sich die Hochschule und womit beschäftigen Sie sich?

Prof. Dr. Nele Graf: Die Hochschule ist die größte bayerische private Hochschule und bietet diverse Studiengänge zum Thema Management an: zum Beispiel Wirtschaft, Psychologie, Sportmanagement und klassische Betriebswirtschaft. Ich persönlich bin an der Fakultät BWL und lehre Personal und Organisation und leite auch das „Competence Center of Innovations & Quality in Leadership & Learning“. Das heißt, wir forschen zu allen Themen der betrieblichen Bildung und Führung in Organisationen.

eLearning Journal: Wir vom eLearning Journal beschäftigen uns mit dem Thema digitale Transformation der betrieblichen Bildung. Eines der großen Themen in den Unternehmen ist, wie das Lernen agiler werden kann. Wir haben die Situation, dass die formellen Lernangebote immer stärker verzahnt werden mit Konzepten des informellen Lernens. Sie beschäftigen sich seit fünfzehn Jahren mit dem Thema Agiles Lernen. Können Sie uns eine Definition anbieten von Agilem Lernen, denn oft scheint dieses gleich Dreierlei zu sein?

Prof. Dr. Nele Graf: Ja, irgendwie werden diese ganzen Buzzwords einfach zusammengemischt: Lernen 4.0, New Learning, der Begriff Agiles Lernen wird dabei häufig eher aus Marketinggründen verwendet. Mir ist es dabei ganz wichtig, in den Ursprung zu gehen: Was heißt denn Agilität und agiles Arbeiten? Es gibt da diverse Konzepte, aber es geht letztlich um die Anpassung an Veränderung. Und wir leben nun einmal in einer Welt des permanenten Wandels und müssen da schauen, wie wir es als Mitarbeiter schaffen, iterativ vorzugehen, um beim Arbeiten Kundenwünsche zu realisieren und eben beim Lernen auch als Mitarbeiter Kompetenzen so aufzubauen, dass ich langfristig für mein Unternehmen erfolgreich sein kann und meine eigene Employability stärken kann. Es geht also um die Veränderungsnotwendigkeit als Grundgedanken und als Lernziel die Anpassung und Innovation. Das heißt, der Ursprung ist die Umwelt, wie die sich ändert und wir müssen irgendwie mit dieser klar kommen. Das bedeutet natürlich viel für die Lernformate, da ist auch eLearning ein Thema, aber auch für die Rolle des Lerners, der deutlich selbstgesteuerter lernen muss und darf. Und natürlich auch für die Rolle der PE, der Führungskraft. Also, das Gesamte ist auch das Mindset, was dahintersteckt.

eLearning Journal: Was sind die Besonderheiten an diesem Mindset? Was ist die Voraussetzung, dass ich mich mit agilem Lernen in meinem Betrieb auch konstruktiv beschäftigen kann?

Prof. Dr. Nele Graf: Also, es geht hauptsächlich ja darum, beim Lernen den Zweck des agilen Lernens zu klären und zu schauen, auf welche Weise das Lernen eben möglichst situativ, arbeitsplatzorientiert und schnell sowie erfolgreich passieren kann. Das heißt, wir gehen sowohl dahin, dass bestimmte neue Formate relevant werden – beispielsweise soziale Kollaboration, also das gemeinsame Lernen, und natürlich das Thema, wie schaffen wir es, dass jeder Einzelne genau das lernt oder Möglichkeiten hat, das zu lernen, was er gerade braucht? Und das zahlt dann auch auf die Formate ein, die besonders prozessual, d.h. stark strukturiert sind wie zum Beispiel auch beim agilen Arbeiten in Systemen wie SCRUM und Kanban. Also, der Prozess ist klar, aber die Möglichkeiten, was ich inhaltlich damit mache, sind sehr flexibel.

eLearning Journal: Was muss ich bei der Umsetzung beachten, wenn ich jetzt als ein Unternehmen sage, jetzt ist es aber an der Zeit: Wir wollen agiles Lernen ermöglichen in unserem Betrieb.

Prof. Dr. Nele Graf: Also, ich glaube das Allererste ist das Thema Mindset. Wir sind in der Personalentwicklung noch sehr in so einer Angebotsorientierung verhaftet. Viele arbeiten noch mit Seminarkatalogen, mit Vorplanung, mit standardisierten Systemen. Ich glaube, da muss ein Paradigmenwechsel stattfinden, der auch schon in ganz vielen Unternehmen startet, in Richtung einer Nachfrageorientierung und des Lerners. Jetzt haben wir natürlich das Problem, dass wir selten als Personalentwicklung wissen, was denn Derjenige zu welchem Zeitpunkt braucht. Das heißt, dieses Learning on Demand ist der Ausgangspunkt. Und dann kommen diese ganzen Themen, die schon lange diskutiert werden wie 70:20:10, also wie lerne ich, zum Tragen. eLearning ist ein großes Thema. Dass ich selber meine individuellen Lernwege gestalten kann, aber eben auch ganz viele Formate wie Barcamps, klassische Formate wie Mentoring, aber auch Working out Loud. Die zahlen darauf ein. Sie sind hochstrukturiert, aber inhaltlich sehr flexibel, da angepasst auf das Individuum.

eLearning Journal: Was sind die Rahmenbedingungen, die ich als Unternehmen haben müsste, um erfolgreich starten zu können mit Agilem Lernen?

Prof. Dr. Nele Graf: Ich glaube, wenn wir genau diesen Wechsel haben von dieser Angebotsorientierung zu dieser Nachfrageorientierung, dann entsteht zwischendurch ein Vakuum. Denn wir als Personalentwickler müssen auf der einen Seite loslassen und der Lerner muss die Verantwortung übernehmen. Das erst einmal auszuhalten und darüber hinaus Stützung zu geben, ist nicht einfach. Also, ich denke dabei an sowas wie Lernkompetenzen zu fördern, Lerncoachings anzubieten, die Mitarbeiter in diesem Prozess also auch zu unterstützen. Auf der anderen Seite geht es natürlich auch um die Kultur. Also, welche Organisationskultur haben wir, wie gehen wir mit Fehlern um? Wie sehr sind wir darauf aus, uns zu verändern, zu lernen und gemeinsam auch weiterzuentwickeln? Da gibt es ganz viele verschiedene Parts, die natürlich zusammen funktionieren müssen. Auch solche Themen wie: Was dürfen denn die Mitarbeiter? Ist Youtube erlaubt oder nicht erlaubt? Also, wie viel Handlungsfreiheit geben wir unseren Mitarbeitern, zu arbeiten und sich entwickeln zu können?

eLearning Journal: Ja, das, was Sie beschreiben Frau Professor Graf, ist natürlich ein großer Einschnitt in die Lern- und Unternehmenskultur. Wie kann ich denn als weiterbildende Fachkraft identifizieren, welchen Reifegrad wir als Unternehmen in Bezug auf Agiles Lernen haben?

Prof. Dr. Nele Graf: Da gibt es unterschiedliche Indizien. Zum einen, welches Verständnis von Arbeit ist in unserem Unternehmen primär vorhanden. Also, ist der Job, wofür ich bezahlt werde, reines Arbeiten oder ist der Job, für den ich bezahlt werde, Arbeiten plus ein bisschen Lernen, um es mal sporadisch einfließen zu lassen oder ist mein Job Arbeiten und Lernen in einer Kombination, wo es gar nicht mehr klar ist, was Arbeiten und was Lernen ist. Also, sich da mal die Frage zu stellen, wie verstehen wir Lernen in unserer Organisation, wäre zum Beispiel der erste Punkt. Ein weiteres schönes Indiz ist, wenn ich zum Beispiel schon eLearning eingeführt habe, wie aktiv wird das denn genutzt? Wie selbstgesteuert nutzen die Mitarbeiter das?

eLearning Journal: Für den Lernprozess gilt ja für den Lerner, was habe ich eigentlich davon? Gehen Sie davon aus, dass der Lerner per se branchenübergreifend ansprechbar ist auf Agiles Lernen oder gibt es dafür Filter, wie ich erkennen kann, wie viel Bereitschaft für Agiles Lernen da ist, in meiner Lernzielgruppe?

Prof. Dr. Nele Graf: Ich glaube, dass die Frage anders lauten muss. Ich glaube, Agiles Lernen hat mit hoher Selbststeuerung des Lernens zu tun und das ist die Zukunft des Lernens, weil die Jobs sich permanent ändern und immer individueller und spezifischer werden. Das heißt, die Frage ist also weniger, wie bereit sind Sie, sondern wie fördern wir den Weg dorthin? Da geht es viel um Sinnhaftigkeit, also zu verstehen, was muss ich denn können und auch die Thematisierung davon, dass Lernen zu dem Job gehört. Denn wir haben jetzt, glaube ich, wirklich schon zweimal den Fehler gemacht in der Personalentwicklung, uns viel mehr auf die Formate zu konzentrieren als auf die Mitnahme der Mitarbeiter. Ich erinnere nur 1999/2000, da gab es WBTs und CBTs und da waren alle schwer begeistert und wir haben uns überlegt, wie kann man es in die Führungskräfteentwicklung und Mitarbeiterentwicklung mit reinnehmen und haben eigentlich viel zu wenig thematisiert, dass sich plötzlich die Anforderungen ans Lernen ändern.

Ich glaube, dass alle Branchen agil lernen müssen. Und da ist es egal, ob meine Organisation an sich agil ist. Es geht darum, dass wir gezielter, iterativer, kollaborativer mit mehr Reflektion, individualisierter und arbeitsplatzorientierter lernen müssen. Weil die Veränderungen einfach viel zu schnell stattfinden. Und da geht es darum, eben die Mitarbeiter dorthin mit hinzunehmen. Und da ist es egal, ob ich Führungskräfte oder Produktion oder gewerbliche Mitarbeiter oder Bürokräfte oder sonstiges habe. Alle müssen mitgehen! Und da geht es eben darum zu achten, sie alle zu fördern: Wie können wir diesen Wandel gestalten? Die digitale Transformation, über die so viel geredet wird, ist eine Transformation, die erst einmal auf der menschlichen Ebene stattfindet, und zwar im Sinne des Abbaus von Ängsten und dem Kompetenzaufbau.

eLearning Journal: Unsere Wahrnehmung in den Unternehmen ist, der Einsatz von digitalen Medien bedarf eines besonderen Stakeholdermanagements, was immer mal wieder auch an fehlendem Einverständnis in Institutionen wie dem Betriebsrat oder der IT-Abteilung letztlich scheitert. Welchen Einfluss hat denn das Stakeholdermanagement auf Konzepte des agilen Lernens? Wie viel Commitment brauche ich?

Prof. Dr. Nele Graf: Viel. Commitment ist alles. Aber ich kann mir das Commitment natürlich deutlich einfacher abholen. Ich muss nicht im Nachhinein die Führungskräfte begeistern, das zu machen, ich muss nicht im Nachhinein den Betriebsrat abholen, ich muss auch nicht im Nachhinein die IT um Erlaubnis fragen. Sondern ich entwickle mit ihnen zusammen. Also, ich bin nicht der interne Anbieter, der es einfach durchführt und später argumentatorisch verkauft. Und die Rollen ändern sich auch. Führungskräfte zum Beispiel gehen viel mehr in die Rolle, dass sie die Mitarbeiter in ihrer Entwicklung begleiten. Das heißt auch Lernbegleiter werden, und zwar von Teams und Individuen. Also die Rolle weg von dem „Ich bin der Entscheider“, denn die Entscheidungen werden viel zu komplex, hinzu kommt, ich möchte mit meinem Team die beste Entscheidung treffen. Oder ich möchte, dass das Team flexibel auch auf neue Anforderungen ganz einfach reagieren kann.

eLearning Journal: Also heißt das, dass ich als Akteur, wenn ich es anregen möchte bei uns im Haus, zunächst einmal Verbündete brauche, um die obere Führung mit an Bord zu holen?

Prof. Dr. Nele Graf: Nicht nur die obere Führung, sondern auch die Mitarbeiter. Und erst fragen, dann machen! Wir müssen uns davon lösen, dass wir schon wissen, was das Beste für die Mitarbeiter ist und wie es didaktisch aufbereitet werden muss, sondern wir sind Lernexperten, das heißt, wir haben Ideen und Vorschläge, die wir aber mit den Mitarbeitern zusammen diskutieren und weiterentwickeln und zur Marktreife bringen. So, dass die Mitarbeiter das nutzen können. Also lösen von diesem, wir sind die Dienstleister als Personalentwickler, hin zum fragen: Was braucht ihr? Wie können wir es gemeinsam gestalten? Und dann die IT mit ins Boot nehmen, Betriebsrat, aber vielleicht auch externe Anbieter, verschiedene Fachbereiche et cetera. Gemeinsam und kollaborativ sind die Stichworte hierzu.

eLearning Journal: Frau Professor Graf, gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Was sind die größten Stolpersteine, die mir auf diesem Weg passieren können?

Prof. Dr. Nele Graf: Das ist zu pauschal, weil sicherlich die Stolpersteine in jeder Organisation anders sind. Per se ist das Verständnis erst mal das vom Lernen und, wenn die Führung nicht demonstriert, dass Lernen essentiell ein Wettbewerbsfaktor meiner Organisation ist, gibt es ein Problem. Das haben wir leider ganz häufig, dass Führungskräfte gar nicht sagen, wie sie selbst zum Beispiel lernen oder vorleben, dass sie auch lernen. Die lernen permanent. Nur gehen sie nicht zum Training, sondern sie unterhalten sich mit Leuten, hören vielleicht einen Pod-cast, die machen ganz andere Sachen, aber Lernen zu thematisieren, auf die Agenda zu heben, ist schon mal das Erste. Also, die Wichtigkeit zu betonen. Das Zweite ist, alle Ebenen mitzunehmen. Also, nicht nur dem Lerner etwas vorzusetzen oder dem Mitarbeiter, sondern zu schauen, wie können wir diese Veränderung/Transformation thematisieren und wie können wir unterstützen? Und auch hier wieder: Nicht erst kluge Angebote machen, sondern fragen, was benötigt wird.

eLearning Journal: Ja, das Prinzip wird langsam deutlich, Frau Professor Graf. Lassen Sie uns noch einen kleinen Ausflug international machen. Wir haben in Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz eine relativ organisierte Beruflichkeit mit ganz klaren Vorgaben und Verläufen. International sind viele deutsche Firmen ja im Export tätig und gerade eLearning wird oftmals eingesetzt, um auch Bildungsstandards zu setzen und ähnliche Voraussetzungen zu schaffen, können Sie aus Ihrer Sicht einen Unterschied feststellen, ob Agiles Lernen in einem bestimmtem Kulturkreis oder bestimmten Regionen besser funktioniert oder weiter fortgeschritten ist als hier im DACH-Bereich?

Prof. Dr. Nele Graf: Ich finde, dass der DACH-Bereich schon sehr weit ist. Wir beschäftigen uns im Moment viel mit selbstgesteuertem Lernen, neuen Rahmenbedingungen. Wir haben hier viele Formate wie Barcamps et cetera, die wir ausprobieren. Ich wohne gerade in Italien. In Italien sind wir deutlich hintendran, weil das Verständnis des Mitarbeiters einfach anders ist. Der Mitarbeiter hier ist primär eine Humanressource. Dort heißt es deshalb, nur gezielt in Weiterbildungen Inhalte „reinzuprügeln“, um es einmal salopp zu formulieren. Da sind wir in der DACH-Region deutlich weiter. Indem wir sagen, ok, wir brauchen ein neues Lernen, weil wir heute auch eine neue Zeit haben.

eLearning Journal: An der Hochschule für Angewandtes Management gibt es ja auch ihren Kollegen Herrn Professor Axel Koch. Professor Koch hatte ja seinerzeit einmal das Buch geschrieben „Die Weiterbildungslüge“. Er sagt darin: Viele Weiterbildungen sind heiße Luft, denn in formaler Weiterbildung findet letztlich ganz wenig Lerntransfer statt. Sein neuestes Buch nennt er „Change mich am Arsch“. Es dreht sich darum, dass ein Mitarbeiter eben sagt, dass ihm alles viel zu viel ist, was da von ihm erwartet wird. Haben Sie nicht auch die Befürchtung, dass der Lerner überfordert sein kann durch Agiles Lernen?

Prof. Dr. Nele Graf: Die Themen, über die Axel Koch alle geschrieben hat: Ich finde, die haben alle seine Berechtigung, haben aber auch eine Grundlogik, die wir vielleicht noch einmal betrachten sollten. Zum Beispiel das Thema Transferstärke. Es geht da ja darum, wie kann ich aus formalen und informellen Angeboten möglichst viel rausholen. Das heißt, wie kann ich diese Lücke zwischen Lernen und Arbeit eigentlich schließen. Unsere Idee beim agilen Lernen ist ja eine andere. Mir ist egal, in welchem Kontext ich bin und in welchem Kontext ich lerne. Ob individuell, sozial, formell, informell et cetera: Wie kann ich das für mich am besten tun, dass ich eben effektiv und effizient bin, aber auch gesund und erfolgreich? Und wenn ich dieses Grundkonstrukt habe, also gut in meinen eigenen Lernkompetenzen bin, dann habe ich auch viel weniger Probleme mit zum Beispiel seinem neuen Buch „Change mich am Arsch“, das heißt mit den Veränderungen, weil ich als Mitarbeiter verstanden habe, dass wir uns eigentlich in einem permanenten Veränderungsprozess befinden und mir Veränderung auch viel weniger Angst macht und ich damit umgehen kann.

eLearning Journal: Vielen Dank fürs Gespräch, Frau Professor Graf.

Redaktion: Jacob Sablotny

Beitragsbild: AdobeStock – SFIO CRACHO


Infos

Was ist Agiles Lernen?

Lernen kennen wir alle, keine Frage. Und Agilität übersetzt der Duden unter anderem mit Gewandtheit, Vitalität und Wendigkeit. Doch wie passen diese Begriffe nun zusammen? Ist Wendigkeit nicht eher eine körperliche Komponente? Und vital sollte man für eine gewisse Aufnahmefähigkeit, gerade in Bezug auf elementare Lernprozesse, doch eh sein. Um ein wenig Licht ins Dunkeln zu bringen, kann man sich hier mithilfe des sogenannten Scrum-Ansatzes an eine greifbare Begriffsklärung annähern. Das ursprünglich aus dem Projekt- und Produktmanagement der agilen Softwareentwicklung stammende Verfahren entstand aus der trivialen Problematik, dass viele Projekte schlicht zu komplex sind und – für eine starre, von Beginn an fixierte Gesamtlösung – zu viele unbekannte Variablen wie zum Beispiel Anforderungen und Lösungsansätze enthalten. Die Lösung liegt hier in der Identifikation von Meilensteinen und der schrittweisen Durchführung notwendiger Sprints – sprich: kurzer Entwicklungsschritte. Scrum ist also dem Management von Projekten zugeordnet. Und glücklicherweise ist Lernen ja auch – richtig: ein Projekt. Und obwohl der Mensch (noch kein) Computerprogramm ist, ist hier eine gewisse Übertragbarkeit auf Lernprozesse gegeben.

Scrum = Agiles Lernen? Naja, nicht ganz…

Auf Bildung allgemein, und die Kompetenzentwicklung in der betrieblichen Bildung im Spezielleren, lässt sich das Scrum-Modell nämlich recht adäquat adaptieren. Hier wird dem Mitarbeiter in Bezug auf Agiles Lernen – man könnte fast von Scrum-Lernen sprechen – ein dynamisches, arbeitsplatzintegriertes Lernen ermöglicht, das durch die digitale Transformation nochmals effektiviert werden kann. Insbesondere gilt dies für die Häufigkeit und die Intensität, mit der sich Mitarbeiter neue Kompetenzen aneignen (müssen). Scrum steht auf den drei Säulen der Transparenz, der Überprüfung und der Anpassung. Unabhängig vom Lerninhalt gelten für den Ansatz mehrerlei Anforderungen, um den agilen Charakter zu wahren und die bewährte Scrum-Methode auf innerbetriebliche Weiterbildungsprozesse anzuwenden. Zum einen muss die Lernumgebung, der Lernprozess enorm skalierbar sein, da in Unternehmen hochdiversifizierte Alters- und Bildungsstandards herrschen und der Trainingsumfang kurze Microlearnings ebenso abdecken können muss wie Weiterbildungsmaßnahmen, die sich über hunderte Stunden erstrecken. Ein weiteres Kriterium, das beim betrieblichen eLearning inzwischen durch intuitive Autorentools gelöst wird, ist die Anpassungsfähigkeit der Lerninhalte. Flexibilität wird hier großgeschrieben und starre, fixierte Lernthemen, die seit Jahren im Unternehmen verankert sind und deren Änderung großen Aufwandes bedürfen, stehen dem Ansatz des Agilen Lernens diametral entgegen. Dennoch ist auch die strukturelle Adaptionsfähigkeit des Lernsettings essentiell. Entsprechend muss sich eine eLearning-Anwendung, die Agiles Lernen erst ermöglicht, nahtlos in bestehende Organisations- und Software-Infrastrukturen einfügen, um jedem Lerner einen problemlosen Zugang zu ermöglichen und somit eine Breitenakzeptanz innerhalb der Belegschaft zu erzielen.

Ablauf, Personen und Rollen

Definiert sind beim Agilen Lernen ebenso die klaren Rollen, die die Akteure einnehmen. Wo in der Wirtschaft noch der Lieferant oder Dienstleister die Wünsche des Kunden bedient, stehen sich beim Agilen Lernen der Mitarbeiter (Lerner) und die weiterbildende Fachkraft (Trainer) gegenüber. Ersterer, der je nach Ansatz auch eine Lerngruppe sein kann, definiert – und dies ist wahrlich eine Besonderheit des agilen Ansatzes – sein Lernfeld und sein Lernprojekt selber. Ebenso wählt er aus dem zur Verfügung stehenden technologischen Lernportfolio des Arbeitgebers seinen Organisationsrahmen und evaluiert seinen Lernfortschritt eigenständig. Dem Coach hingegen kommt beim Agilen Lernen die Aufgabe zu, fachliche, didaktische und methodische Hilfestellungen anzubieten, den Lernprozess zu moderieren und die Reflexionszyklen festzulegen. Ebenso dient er dem Lerner als Ansprechpartner bei Problemen mit den einzelnen Lernzielen.

Es handelt sich beim Agilen Lernen demnach um ein sehr selbstgesteuerten Lernansatz, der eine hohe Selbstkontrolle und Eigenständigkeit des Lerners voraussetzt und letztlich dem Ideal des Autodidakten insofern am nächsten kommt, als dass die Devise des Arbeitgebers lautet: „Wir bieten euch die technische Basis. Ihr wisst selber am besten, wie ihr erfolgreich lernt. Bei Problemen stehen wir euch gerne zur Verfügung.“.

Und ja: Genau dies hat sich in der Praxis tatsächlich bereits mehr als bewährt.


Profil

Prof. Dr. Nele Graf

ist promovierte Betriebswirtschaftlerin, studierte Psychologin und war vom Jahr 2014 bis 2017 jährlich Preisträgerin des Exzellenz-Awards der Hochschule für angewandtes Management (HAM) in der Kategorie „Forschung“. An der HAM ist sie seit dem Jahr 2012 als Professorin für Personal und Organisation mit den Forschungsschwerpunkten Führung, Lernkompetenzen, Lerntransfer und Zukunft der Personalentwicklung am Standort Erding tätig. Seit dem Jahr 2002 fungiert Graf zudem als Inhaberin der Humex Consulting und seit 2009 als Geschäftsführende Gesellschafterin der Mentus GmbH. Sie ist Autorin und Herausgeberin diverser Fachbücher (siehe auch „Publikation“).


Literatur

Nele Graf / Denise Gramß / Frank Edelkraut:

Agiles Lernen: Neue Rollen, Kompetenzen und Methoden im Unternehmenskontext

In diesem Fachbuch stellt Nele Graf, gemeinsam mit einer Kollegin von der HAM und dem Gesellschafter von der Mentus GmbH, zukunftsträchtige Lernformate vor, analysiert die damit verbundenen neuen Rollen von Personalentwicklern, Führungskräften und Mitarbeitern. So wird ein Ausblick in die Zukunft der Personalentwicklung gewagt und die entscheidende Frage geklärt, welche Kompetenzen die Mitarbeiter für eine konsequente Umsetzung von Agilem Lernen im Betrieb benötigen. Ebenso erfährt der Leser, wie diese Kompetenzen gefördert werden können und wie hieraus eine konstruktive, moderne Kultur des Lernens entstehen kann.

 

ISBN: 978-3-648-13060-5
Verlag: Haufe; 2. Auflage (2019)
Sprache: Deutsch


Kontakt

Prof. Dr. Nele Graf
Hochschule für angewandtes Management

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