Lernprozesse aus Sicht der Bildungs- und Sozialwissenschaft

„Hochschule und Betrieb können viel voneinander lernen“

Prorektor Prof. Dr. Uwe Elsholz von der Fernuniversität Hagen (FernUniversität) über die Voraussetzungen, die betriebliche Bildung zu digitalisieren.

E-LearningLiegt betriebliche Weiterbildung ausschließlich in der Verantwortung der Arbeitgeber? Wie unterscheiden sich die Anforderung in Hochschulen und Betrieben? Und wie grenzt sich eigentlich die Dekontextualisierung von der Rekontextualisierung ab? Im Gespräch mit dem eLearning Journal findet Prof. Dr. Uwe Elsholz der FernUniversität auf diese und weitere spannende Fragen aufschlussreiche Antworten und liefert zudem anhand eines Begleitprojektes des Mittelstandes einen interessanten Einblick in arbeitgeberseitig vorherrschende Muster bei der betriebsinternen Umsetzung der Digitalisierung.

eLearning Journal: Herr Professor Elsholz, was zeichnet die Fernuniversität Hagen aus und wie viele Studenten haben Sie?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Die Fernuniversität wird in den Medien viel tituliert, aber oft nur deshalb, weil andere Unis sagen, sie werden nicht Fernuniversität, weil ja viele oder eigentlich alle Hochschulen Deutschlands jetzt kurzfristig auf Onlinelehre umgestellt haben. Das ist aber auch so ein bisschen eine Fehlinterpretation dessen, was die Fernuniversität eigentlich ausmacht. Was wir letztlich seit 1974 tun, ist Menschen ein Studium ermöglichen, die nicht an eine Präsenzhochschule gehen können. Und zwar aus unterschiedlichsten Gründen. Also die, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Und 80 % unserer Studierenden sind eben berufstätig, was für mich als Berufspädagoge natürlich eine besonders spannende Studierendenklientel ist. Die Besonderheit ist aber, dass wir von der Studierendenzahl her die größte Universität Deutschlands mit ungefähr 76.000 Studierenden sind. Und wir ermöglichen diesen Studierenden das Studium vor allen Dingen auch asynchron. Also diese Möglichkeit, sich eben nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einzufinden oder einfinden zu müssen, das ist eigentlich die Besonderheit der Fernuniversität Hagen. Damals und auch noch heute. Und das zeigt so ein bisschen auch schon die Richtung, in der ich auch unterwegs bin. Es geht nämlich darum, Lernen zu ermöglichen. Und wie kann ich das ermöglichen? Früher war das eben etwas, was fast ausschließlich über diese berühmt berüchtigten Studienbriefe funktioniert hat und auch heute gibt es diese Studienbriefe noch. Die sind aber nur ein Bestandteil der Lehre und nicht mehr das Alleinige. Vielleicht so viel in Kürze zur Fernuni.

eLearning Journal: Zoomen wir erst noch ein klein wenig näher ran – Sie sind Prorektor der Fernuniversität Hagen. Das heißt, man hat nur noch einen Vorgesetzten. Womit beschäftigen Sie sich persönlich in der Lehre und in der Forschung?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Ich komme ja aus dem Feld der Berufs- und Betriebspädagogik und das ist eigentlich ein Thema, mit dem ich mich schon etwa 20 Jahre beschäftige. Immer aber eigentlich unter so einer Perspektive der Kompetenzentwicklung der Lernenden. Und ich bin jetzt gar nicht der Digitalisierungsapostel, der sagt, man muss alle möglichen digitalen Medien nutzen. Ich sehe aber, dass digitale Medien immer größere Möglichkeiten bieten, Kompetenzentwicklung auch zu unterstützen. Und das ist auch der Grund, weshalb die digitalen Medien in meiner Forschung eine immer größere Aufmerksamkeit erhalten haben in den letzten zehn Jahren etwa. Und ein zweiter Aspekt, der vielleicht auch im weiteren Gespräch deutlich wird, ist der, dass ich zum einen von Haus aus eben nicht nur Pädagoge, sondern auch Sozialwissenschaftler und Soziologe bin. Und deswegen immer auch so ein bisschen einen weiteren Blick habe. Und über diese Tätigkeit als Prorektor an der Fernuni natürlich auch die Hochschule und den Hochschulkontext ganz stark im Blick habe. Und ich denke einerseits, dass Hochschulen ganz viel von betrieblicher Bildung lernen könnten, aber auch umgedreht. Und das ist das, was ich hier eben versuche noch einmal stark zu machen. Dass es auch umgekehrt Aspekte aus der hochschulischen Bildung gibt und dass die betriebliche Bildung von den Fragen und Perspektiven, die es dort gibt, profitieren kann.

eLearning Journal: Ja, wenn wir aus der berufspolitischen Ordnungsarbeit schauen, dann haben wir ja ganz unterschiedliche Zielgruppen. Die Zielgruppe Schule, Hochschule, Ausbildung und Weiterbildung. Wir haben jetzt hier mit Ihnen natürlich einen Experten, der sich ja mit der gleichen Zielgruppe beschäftigt wie die betriebliche Bildung – nämlich mit den Beschäftigten. Das heißt in der betrieblichen Bildung ist der Lerner immer ein Beschäftigter. Und wenn es um Händlerschulungen geht, dann ist es halt ein Beschäftigter aus einem anderen Unternehmen. Auch bei euch in der Fernuniversität sind es ja überwiegend Berufstätige, die bei euch ein Studium machen. Unterscheiden sich dann die Lernszenarien und die Bedarfe dessen, was sich anbietet zur Weiterbildung? Unterscheiden die sich prinzipiell von der betrieblichen Bildung?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Sie unterscheiden sich insofern, als dass wir letztlich eine Institution und ein Bildungsanbieter sind, der akademisches Lernen anbietet. Und die deutsche Bildungstradition – und da hat die Fernuni ja nur eine Rolle – ist eben so, dass die Lernorte Hochschule und Betrieb ja traditionell sehr stark getrennt sind. Und das, was man sich eigentlich als Lernender wünschen würde, nämlich eine Verbindung der Lernorte, das ist noch Zukunftsmusik. Das hat auch ganz viel mit verschiedensten Formen der Regulierung zu tun. Das Einzige, was sich bei uns unterscheidet, ist letztlich, dass die Lernenden – obwohl sie eben Soziologie, Jura oder Wirtschaftswissenschaften studieren – das individuell sehr stark als eine Weiterbildung begreifen. Und sie eher von einer anderen Herausforderung stehen als junge Studierende. Vielleicht das als Unterscheidung: Wenn ich Lernender im Unternehmen bin oder Lernender an der Hochschule, dann ist es die Herausforderung, sich für die Hochschullehre gerade auch distanzieren zu können von der eigenen Arbeit. Wir werden gleich auch noch über das Lernen im Prozess der Arbeit reden, das ich auch sehr befürworte, aber das hochschulische Lernen lebt genau davon, auch zu abstrahieren und sich zu distanzieren. Letztlich braucht man beide Fähigkeiten. Die Hochschule bildet aber auch nur einen Teil dessen ab. Vielleicht kann sie auch gar nicht mehr. Jedenfalls bleibt diese Übersetzung letztlich dem Lernenden überlassen, was dem Bildungssystem geschuldet ist.

eLearning Journal: Sie haben ja das Lernen im Prozess der Arbeit angesprochen. Der Rezipient des eLearning Journals ist die weiterbildende Fachkraft, der Akteur im operativen Geschäft, aus den Personalabteilungen, aus den Weiterbildungsabteilungen, aus den Fachabteilungen. Die, die Lernprozesse organisieren. Und je größer das Unternehmen, desto mehr herrscht mittlerweile das Bewusstsein vor: Unser Job ist Kompetenzentwicklung – die Kompetenzentwicklung arbeitsplatznah zu gestalten. Wenn wir nun einmal in das Gedankengebäude des Bildungswissenschaftlers Peter Dehnbostel reinschauen, dann gibt es dort ja diesen zentralen Begriff des lernförderlichen Arbeitsplatzes. Ist der aus der Zeit gefallen oder ist das heute immer noch gültig?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Letztlich stammen diese Forschungen zur lernförderlichen Arbeit aus den 80er-Jahren und die Wurzeln sind in den 70ern. Sie sind ein Programm zur Humanisierung des Arbeitslebens. Die dort gefundenen Kriterien, die Peter Dehnbostel noch einmal berufspädagogisch interpretiert hat, sind letztlich bis heute weiter gültig. Was jetzt aber die Herausforderung ist, ist das noch einmal neu zu interpretieren in Zeiten der Digitalisierung. Also manche der Begrifflichkeiten wirken etwas antiquiert, aber die Inhalte, die dort festgestellt wurden, sind letztlich weiter hochaktuell.

eLearning Journal: Als weiterbildende Fachkraft habe ich, wie Peter Dehnbostel so schön sagt, in der Regel keinen vorgezeichneten Karriereweg. Und das ist noch zudem durch die Digitalisierung ein sehr beschleunigter Prozess. Können Sie den Kollegen in den Unternehmen und Organisationen ein Angebot machen, was unter einem lernförderlichen Arbeitsplatz zu verstehen ist?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Einige der klassischen Kriterien, die es dafür gibt, sind ja vor allen Dingen Aspekte des Handlungsspielraums und der vollständigen Handlung. Also das sind fast die beiden wichtigsten Kriterien. Es geht dann auch um die Frage der sozialen Einbindung. Aber wenn ich mir allein diese beiden Aspekte ansehe – des Handlungsspielraums und der Vollständigkeit einer Handlung – dann kann ich mir heutzutage auch anschauen, wie viel Handlungsspielraum die Beschäftigten haben. Und auch – das ist ja eine Perspektive, auf die ich stärker schaue: Wie verändern sich diese Handlungsspielräume durch Prozesse der Digitalisierung? Und zwar der Digitalisierung der Arbeit. Denn es geht ja nicht nur um die Digitalisierung von Bildung, sondern die ganzen Arbeitsprozesse, die ganze Arbeitswelt digitalisiert sich ja. Und wie sich das letztlich auf diese Handlungsspielräume auswirkt, ist eine ganz wichtige Frage.

eLearning Journal: Sie haben das Stichwort selber schon genannt: „Digitalisierung der Arbeit“. Vielleicht schauen wir noch einmal auf das Big Picture. Was sehen Sie in diesem Big Picture? In welcher Beschleunigung, welcher Konsequenz findet diese Digitalisierung der Arbeit statt?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Ich beziehe mich jetzt vor allem auf ein Projekt, wo wir fünf kleine und Mittelbetriebe zwischen 100 und 300 Beschäftigten in Prozessen der Digitalisierung begleiten. Wir stellen zum einen fest, dass Digitalisierung eben kein Prozess ist, der auf Knopfdruck stattfindet, sondern es ist eher ein inkrementeller Prozess mit ganz vielen kleineren Digitalisierungsvorhaben und Digitalisierungsprojekten. Es ist nicht sowas wie „gestern war nicht digitalisiert und morgen ist es digitalisiert“, sondern das ist eher ein Prozess und findet auf der Ebene der Unternehmen nicht disruptiv statt. Es gibt ja so viel Diskussionen über Disruption, das stellt sich zumindest auf der Ebene eines Einzelbetriebes etwas anders dar. Das Andere ist, dass es in dieser ganzen Diskussion über Digitalisierung ja, beginnend mit der berühmten Studie von Frey und Osborne von 2013, so Horrorszenarien über Arbeitsplatzverluste gibt. Doch es gibt auch etwas differenziertere Berechnungen, beispielsweise aus dem Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Kollegin Dengler und Matthes. Was wir da wahrnehmen, aber was zunächst keinen Anspruch auf Verallgemeinerung hat, ist, dass wir auf der konkreten Ebene feststellen, dass beides gleichzeitig stattfindet. Also dass es sowohl zu einer teilweisen Dequalifizierung kommt, indem Handlungsspielräume sich vermindern durch Prozesse der Digitalisierung, dass es aber auch gleichzeitig zu einer Erhöhung der Handlungsspielräume kommt. Was ich damit sagen will ist, dass auf einer Mikroebene solche volkswirtschaftlichen Betrachtungen doch nur begrenzt helfen. Das heißt, ich muss mir jeweils auch die einzelnen Prozesse anschauen, um eine Einschätzung darüber gewinnen zu können, was es für das Thema Qualifizierungsanforderungen heißt – oder auch Dequalifizierung oder Höherqualifizierung oder auch Polarisierung, was so die gängigen Szenarien sind.

eLearning Journal: In Ihren wissenschaftlichen Werken stellen Sie besonders den Begriff der Transferkompetenz in den Vordergrund. Was meinen Sie damit?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Transferkompetenz ist etwas, auf das wir im Rahmen des angesprochenen Projekts mit dem Namen KILPad.de gestoßen sind, das wir zusammen mit Kollegen der Uni Witten/Herdecke durchführen. Da sind wir auf etwas gestoßen, wo wir glauben, da ist noch mehr Potenzial und es wird noch nicht so viel dazu geforscht. Das ist noch nicht so im Blick. Und zwar sind das diese Prozesse der Digitalisierung und umgedreht, also: Was macht der Beschäftigte mit den Daten, nachdem etwas digitalisiert ist? Was wir feststellen ist, dass ich, bevor ich etwas versuche zu digitalisieren, einerseits mit den richtigen Leuten sprechen muss und den Leuten auch die Kompetenz geben oder es ermöglichen muss, in einer bestimmten Sprache zu sprechen, damit es auch digitalisierbar ist. Also die Beschäftigten müssen das, was sie tun, zunächst dekontextualisieren, sprich: aus dem Einzelfall herausnehmen, damit es digitalisierbar ist. Das ist so ein Prozess, der aus meiner Sicht noch nicht so stark im Blick ist und da ist deswegen auch entscheidend, was ich vorher sagte alias „Digitalisierung ist kein einmaliger Prozess“. Also, wenn man aus solchen Prozessen etwas lernen kann, dann kann man das für weitere Prozesse der Digitalisierung auch nutzen. Da hängt sozusagen das Interesse des Unternehmens dran, eben diese Prozesse der Dekontextualisierung in den Blick zu nehmen. Und das Andere, was der Beschäftigte immer noch machen muss – und darauf weisen auch Industriesoziologen hin – sind Prozesse der Rekontextualisierung. Also, wenn Prozesse digitalisiert sind, dann habe ich irgendwelche Daten vorliegen, aber die Daten arbeiten trotzdem nicht alleine. Das heißt, ich muss schon eine Interpretation der Daten vornehmen. Zum Beispiel erfahrene Beschäftigte, die sehen, dass das Programm schon etwas im roten Bereich anzeigt, sie aber ganz genau wissen, dass man trotzdem noch drei Tage warten kann, bevor man irgendwie agieren muss. Sprich: dass sie die Daten, die sie sehen, nicht einfach blind umsetzen, sondern über eine durchaus andere Art von Erfahrungswissen Daten auch interpretieren und dann eben wieder in den Arbeitskontext dekontextualisieren. Und diese beiden Aspekte der Re- und Dekontextiualisierung habe ich versucht, mit dem Begriff Transferkompetenzen zu kennzeichnen, die eben Kompetenzen sind, die aus meiner Sicht stärker in den Blick geraten sollten – nicht nur bei der Wissenschaftlerin und dem Wissenschaftler, sondern auch beim betrieblichen Bildungspersonal.

eLearning Journal: Ok, lassen Sie uns da noch ein bisschen näher rangehen an das Bild, was Sie gerade beschreiben. Aus Sicht des Bildungspersonals wie Sie es nennen oder der weiterbildenden Fachkraft wie Professor Dehnbostel es nennen würde oder des eLearning Professionals wie es in der Community manchmal genannt wird, ist diese Situation ja wie folgt: Jemand gilt als der eLearning-Experte im Betrieb. Es kommt jemand auf ihn zu, in der Regel ein Vorgesetzter, und sagt: mach mal! Diese Person sitzt in der Personal- oder Weiterbildungsabteilung, und in 20 % der Unternehmen über 10.000 Mitarbeiter gibt es gar bereits einen eLearning-Beauftragten. Und Sie sagten uns ja gerade, wir sollten mit den richtigen Leuten sprechen. Wer sind denn diese „richtigen Leute“?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Zum einen sind das natürlich die Beschäftigten selbst, mit denen es zu sprechen gilt. Und ich sage mal, die klassischen eLearning-Beauftragten, die beispielsweise technisch unterstützen, die braucht es natürlich auch. Aber die Rolle des betrieblichen Bildungspersonals darf sich nicht darin erschöpfen, sich auf technologische Fragen zurückzuziehen. Dieser Trend zum Lernen im Prozess der Arbeit und die veränderte Rolle bezüglich des Bildungspersonals oder der weiterbildenden Fachkraft wurde ja schon vor 10-15 Jahren beschrieben. Und da ist, glaube ich, die Herausforderung, aber auch die Chance, sich durch digitale Medien stärker diesen Prozessen zu widmen und das mehr anzusehen. Also nicht von irgendwelchen Tools oder von neuen Moden, sondern betriebliches Lernen auch von der Arbeit her zu denken.

eLearning Journal: Lernen im Prozess der Arbeit scheint mir so aktuell zu sein wie nie zuvor. Ich begleite ja auch seit 15 Jahren medial, praktisch im Maschinenraum der betrieblichen Bildung, die Unternehmen, die eLearning einsetzen. Bei 50 %, nach unseren eLearning BENCHMARKING-Studien, an der sich große Unternehmen beteiligen und 60 Fragen beantworten, gibt es gar keine Betriebsvereinbarung zu dem Thema digitale Transformation der betrieblichen Bildung. Das ist jetzt nur in den großen Unternehmen ab 1000 Mitarbeitern so. Und in Dreiviertel der Unternehmen gibt es auch keine verschriftlichen Trainingspläne. Der Akteur, der aus seiner Sicht für das Lernen im Prozess der Arbeit Lernszenarien entwirft oder unterstützende Maßnahmen für informelles Lernen organisiert, ist umzingelt von Stakeholdern. Und da gibt es in der Regel gar keinen Gesprächsleitfaden oder Handlungsleitfaden, wie er damit umzugehen hat. Schauen wir doch einmal näher dran: Sie sagten, aus dem Interesse des Beschäftigten denkend herangehen. Doch dann haben wir noch den Interessenvertreter Betriebsrat. Und das weiß ich zu Genüge, dass gut gemeint noch lange nicht gut gemacht ist. Also wenn Projekte vorbereitet werden, dann werden sie nicht selten beim Betriebsrat wieder einkassiert. Was können Sie uns denn mitgeben, was die Interessen des Beschäftigten angeht, die wir berücksichtigen sollten bei der Konzeption von Lernszenarien?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Zum einen ist es ja so, dass wenn eLearning traditionell geregelt wurde, dann war das häufig auch eher klassisches eLearning. Und mir sind zumindest auch keine Betriebsvereinbarungen bekannt, die diese andere Art des Lernens schon zufriedenstellend regeln. Ich würde zwei Aspekte ansprechen wollen: Zum einen sind natürlich die klassischen Perspektiven und Punkte eines Betriebsrates Richtung Datenschutz, Datensouveränität und Schutz vor Überwachung weiterhin wichtig. Da sollten Betriebsräte auch weiter drauf bestehen. Mein Plädoyer beim Lernen im Prozess der Arbeit wäre aber – so schnell, wie sich Tools und Programme ändern, dass das kaum über eine einzelne Betriebsvereinbarung zu regeln ist -, dass es eher darum gehen sollte, solche Prozesse der Einführung zu regeln und nicht so sehr die Fakten oder bestimmte Programme. Also das wäre eher so ein zweiter Punkt, dass es eher darum geht, wie werden Beschäftigte beispielsweise einbezogen, wenn man neue Sachen einführen will. Dass man also eher solche Prozesse, auch Beteiligungsprozesse, regelt und weniger ein einzelnes Tool, sei es Zoom oder was jetzt gerade aktuell ist, zum Gegenstand so einer Regelung macht. Denn da würde ich eher befürchten dass, bis man sich geeinigt hat, keiner mehr weiß, wie das Tool heißt, über das man gesprochen hat.

eLearning Journal: Ja, dafür ist es zu schnelllebig. Das Lernen im Prozess der Arbeit wird heute in der betrieblichen Bildung in diesem Sprachraum verhandelt, Informelles Lernen und Kompetenzentwicklung mit digitalen Medien. Wie zuversichtlich sind Sie eigentlich als Berufspädagoge, dass wir eine positive Wirkungsprognose bei der Kompetenzentwicklung mit digitalen Medien betreiben können?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Also erst einmal muss ich sagen finde ich das extrem positiv, dass es diese Aufmerksamkeit jetzt gibt. Also eine Forschung zum Thema, wie wichtig Lernen im Prozess der Arbeit ist. Da gibt es schon ganz viele und ganz lange irgendwelche Studien. Aber jetzt ist das auch in den Unternehmen angekommen. Und das finde ich erst einmal sehr positiv, dass da eine Aufmerksamkeit ist und dass das nicht nur eine Restkategorie des Lernens ist. Das dreht die Perspektive um. Das heißt, es sollte immer zuerst um diese Art des Lernens gehen und erst in zweiter Linie um stärker formalisierte Arten des Lernens. Das finde ich sehr positiv und dann kommen da die digitalen Medien ins Spiel: Es gibt heute viel mehr Chancen auch über digitale Medien zu lernen und auch kollaborativ zu lernen, als das noch vor zehn Jahren der Fall war. Im Grunde genommen bin ich da sehr positiv gestimmt und bin ganz optimistisch. Es gibt immer auch ein paar „Aber“, doch wir haben eigentlich gute Voraussetzungen, weil das Mindset in den Unternehmen grundsätzlich angemessen ist und ich denke auch, die Beschäftigten merken allmählich, wie wichtig das ist. Und dass nicht mehr diese Haltung vorherrscht – das war ja eine frühere, gewerkschaftliche Meinung, der ich nie anhing –, dass Weiterbildung Aufgabe des Arbeitgebers sei. Und dieser allein dafür zu sorgen und den Arbeitnehmer mit Zeit und Kosten und allem freizustellen habe. Das ist doch ein sehr bequemes Verhalten eines Beschäftigten. Und ich denke, dass das sehr gut ist, dass sich da auch ein Wandel vollzogen hat, ohne dass es eben dazu kommen darf, dass so eine Mentalität „Jeder ist seines Glückes Schmied“ vorherrscht. Sonst bräuchte man ja auch nicht die betrieblichen Bildungsmenschen dort, es bleibt weiterhin in der Verantwortung des Unternehmens – Bildung und Lernen eben auch zu ermöglichen, aber eben keine alleinige Verantwortung, sondern immer eine geteilte Verantwortung.

eLearning Journal: Ja, zahme Vögel singen, wilde Vögel fliegen. Die fortgeschrittenen Weiterbildungsfachkräfte, die sprechen heute in den Unternehmen von Agilem Lernen und von Selbstverantwortlichem Lernen. Wie weit entpflichtet das den Arbeitgeber denn, immer mehr auch die Validierung von informell erworbenen Kompetenzen sicherzustellen, dass der Beschäftigte diese Kompetenzen in seiner Erwerbsbiografie auch mit sich tragen kann?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Gar nicht, wäre meine Antwort. Sondern ganz im Gegenteil. Je mehr informell gelernt wird, desto mehr drängt sich die Notwendigkeit auf und es wird auch immer mehr zum Interesse der Beschäftigten, diese Kompetenzen auch zu validieren. Das fängt damit an, sich selber dessen bewusst zu werden, was man denn eigentlich gelernt hat. Da nehme ich mich gar nicht aus. Wenn ich nicht darüber nachdenke und mir die Zeit dafür nehme, dann wird mir selber gar nicht klar, was ich gelernt habe in bestimmten Prozessen. Also das ist das Erste. Das Zweite ist, das auch in einer Form zu dokumentieren, dass der Beschäftigte für seine weitere berufliche Entwicklung damit etwas anfangen kann und das entweder unternehmensintern oder eben auch auf dem Arbeitsmarkt anderen gegenüber darstellen kann. Das ist schon etwas, wo es sich betrieblich sicherlich auch noch anbietet, Lösungen zu finden, die nicht nur darauf hinauslaufen, so ein Kompetenzmanagement zu betreiben, wie das vor einigen Jahren stark versucht wurde und was eine einseitige Kompetenzmanagementperspektive aus Sicht des Unternehmens innehatte. Weil ich glaube das funktioniert dann auch nicht, denn wenn die Beschäftigten das merken, dann werden sie anders agieren als wenn sie merken, dass sie auch etwas davon haben, wenn deren informell erworbenen Kompetenzen in irgendeiner Art festgestellt und validiert werden.

eLearning Journal: Lassen Sie uns noch ein Feld in den Blick nehmen: Eine der großen Herausforderungen für diese Akteure im operativen Geschäft ist, zur Motivation beizutragen, dass der Lerner, der ja immer ein Beschäftigter ist, gut motiviert ist. Wenn ich mir so manche eLearnings ansehe, dann haben sie eigentlich eher den Charme eines Wohngeldantrages, wo ich mit Multiple Choice etwas ausfüllen soll und dahinter steckt letztlich eine Pflichtzertifizierung für Compliance. Auf der anderen Seite sind jede Menge Akteure und Anbieter unterwegs, die die Braut hübsch machen wollen, indem Gamification eingesetzt wird. Was ist aus Ihrer Sicht eine wichtige Stellschraube für die Motivation und Akzeptanz, um dem Lerner/Beschäftigten bei der Kompetenzentwicklung so weit wie möglich entgegenkommen zu können, sowohl aus seiner Sicht als auch aus der der betrieblichen Belange?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Ich denke, dass solche Ansätze oder die Arbeit mit Badges oder ähnliche motivationsfördernde Aspekte – Sie hatten das Stichwort Gamification genannt – vielleicht kurztaktisch, beispielsweise wenn es um eine Arbeitsschutzschulung geht, die nur mit geringer Lust vollbracht wird, Sinn haben. Aber ich halte das für einen sehr begrenzten Bereich, wo das tatsächlich einen Sinn macht. Für mich kommt es eher darauf an – und das ist aber eine theoretisch begründete Perspektive – dass dieses Lernen in Verbindung gebracht wird mit der Erfahrung, nämlich der Erfahrung aus der Berufstätigkeit und auch mit konkreten Handlungen. Also, dass es kein kognitiv verkürztes Wissen ist, was dem Lerner in gewisser Weise antrainiert wird für irgendeinen Test, den ich vielleicht bestehe, aber zehn Minuten später gar nicht mehr weiß, was ich angekreuzt habe. Also das wären für mich eher Qualitätskriterien: eine Verbindung zur Erfahrung und zur Handlung, idealerweise dann auch noch verbunden mit der Kollaboration mit Anderen. Also sehr viel stärker und sehr viel langfristiger als solche Kurztaktiken.

eLearning Journal: Letzte Frage, mit der Bitte klare Kante zu zeigen: Wir sehen in den Unternehmen, dass sich zwei Lager bilden, sozusagen als Cluster in der betrieblichen Bildung: Die einen, die sagen, dass der Einfluss auf die Lernkultur, auf die Unternehmenskultur, Bottom Up erfolgen müsse. Und die anderen sagen, dass ohne die obere Führung überhaupt gar nichts läuft. Dass muss top down laufen. Was ist Ihre Position dazu?

Prof. Dr. Uwe Elsholz: Klare Kante ist da schwierig, weil ich denke, es hat beides seine Berechtigung. Bottom Up funktioniert nicht, wenn die Leitung etwas anderes vorlebt und andere Parolen ausgibt. Und umgedreht nützen die besten Leitbilder nichts, wenn sie nicht gelebt werden. Und zwar auch unten. Also auch in der mittleren und unteren Führungsebene. Deswegen: Klare Kante wäre für mich eher, dass man auch leben muss, was man sagt. Und nicht Bottom Up oder top down.

eLearning Journal: Schönes Schlusswort. Vielen Dank, Herr Professor Elsholz. Wir sehen uns ja an dem einen oder anderen Round Table künftig wieder.

Redaktion: Jacob Sablotny

Beitragsbild: AdobeStock – Egor


Profil

Prof. Dr. Uwe Elsholz

ist Prorektor für Weiterbildung, Transfer und Internationalisierung an der Fernuniversität Hagen. Der Bildungs- und Sozialwissenschaftler hat seit dem Jahre 2013 die Professur für Lebenslanges Lernen inne. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind die beruflich-betriebliche und die wissenschaftliche Weiterbildung, in denen er unter anderem den Einsatz digitaler Medien in der beruflichen und hochschulischen Bildung untersucht. Elsholz ist Fellow des Stifterverbandes für Innovationen in der Hochschullehre und fungiert zudem als Gutachter für verschiedene Fachzeitschriften und als Fachbuchautor (siehe „Literatur“).


Literatur

Uwe Elsholz / Matthias Rohs:

E-Portfolios für das lebenslange Lernen

In seinem Erstlingswerk stellt Prof. Dr. Uwe Elsholz, gemeinsam mit einem Co-Autor der TU Kaiserslautern, maßgebliche Konzepte und Umsetzungen von E-Portfolios in unterschiedlichen Bereichen der Bildungspraxis vor. Unter E-Portfolios werden die neuen Werkzeuge zur Dokumentation und Reflexion von Kompetenzen in der beruflichen Bildung zusammengefasst. Konkret gehen die Autoren unter anderem auf den eProfilPASS, das mobile Ausbildungsportfolio, das Online-Berichtsheft BLok und den Berufswahlpass ein und analysieren zudem den Stellenwert und die berufspädagogischen Potenziale von E-Portfolios. Abschließend werden Denkanstöße für die Weiterentwicklung gegeben.

ISBN: 9783763953875
Verlag: Bertelsmann W. (26.06.2014)
Sprache: Deutsch
Form: Print


Prof. Dr. Uwe Elsholz
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