Künstliche Intelligenz aus Sicht der Visual Analytics

„Wir werden in Zukunft Systeme haben, die unsere Lernabsichten rascher erkennen“

Professor Dr. Ralph Ewerth von der TIB, dem Leibniz-Informationszentrum für Technik und Naturwissenschaften

Künstliche Intelligenz – das Schwerpunktthema der digitalen Transformation. Aber was ist dran an diesem Hype? Wird KI die betriebliche Weiterbildung und das Lernen im Allgemeinen revolutionieren? Wie weit ist der momentane Stand der Forschung? Wie kann auch ich auf den KI-Express mit aufspringen? Das eLearning Journal befragte Professor Dr. Ralph Ewerth von der Leibniz Universität Hannover zu seinen Erfahrungen, Forschung und Aussichten bezüglich des Lernens mit und von KI.

eLearning Journal: Professor Dr. Ralph Ewerth, Ihr persönlicher Wirkungskreis: Womit sind Sie in Forschung, Entwicklung und Lehre beschäftigt?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Zu meiner Zugehörigkeit ur Leibniz Universität Hannover möchte ich ergänzend sagen, dass ich auch an der TIB Hannover, dem Leibniz-Informationszentrum für Technik und Naturwissenschaften tätig bin. Das ist die Technische Informationsbibliothek in Hannover. Dass eine Bibliothek eine Forschungsgruppe hat, klingt vielleicht verwunderlich. Dort leite ich die Forschungsgruppe Visual Analytics. Wir beschäftigen uns mit Möglichkeiten, um wissenschaftliche Informationen oder Lehrmaterialien besser erschließen , besser zu durchsuchen , oder durch Visualisierung besser explorieren zu können. Die Technische Informationsbibliothek ist ein Leibniz-Institut, wir entwickeln neue Dienste und Algorithmen nicht nur für uns, sondern generell als Infrastruktur für Wissenschaftler*innen und Studierende, sodass wissenschaftliche Informationen besser auffindbar werden.

eLearning Journal: Ja und damit sind Sie der betrieblichen Bildung so ein paar Meter voraus. Da ist der flächendeckende Einsatz von Künstlicher Intelligenz noch nicht in den Betrieben angekommen, der. Was für Künstliche Intelligenz setzen Sie eigentlich ein?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Wir setzen einerseits Methoden des maschinellen Lernens ein, zum Beispiel um Bild- und Videodaten oder auch Textdaten, zu klassifizieren. Also, dass wir automatisch erkennen, was in einem Video zum Beispiel gezeigt, gesprochen oder welcher Text eingeblendet wird etc. Wenn wir die Videoinhalte entsprechend erkennen, dann können wir daraus automatisch Metadaten generieren, mit deren Hilfe bestimmte Szenen anhand des Inhalts wiedergefunden werden können. Das heißt konkret, wenn wir uns für ein Thema aus der KI, zum Beispiel Deep Learning, interessieren, können wir in einem Video alle Segmente wiederfinden, in denen der Dozent über Deep Learning spricht und uns so vielleicht auch spezifische Aspekte dazu erklären lassen.

eLearning Journal: Lassen Sie uns versuchen, ein Bild zu zeichnen, wie so ein Szenario aussieht. Gibt es da ein Projekt oder auch ein Szenario, was man jetzt als Außenstehender nachvollziehen könnte?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Zum einen kann man hier das TIB AV-Portal nennen. Das ist ein Portal, das in einem Gemeinschaftsprojekt der Technischen Informationsbibliothek und dem Hasso-Plattner-Institut in Potsdam entwickelt wurde und Zugang zu wissenschaftlichen Videos und Lehrvideos bietet. Dort sind solche Methoden, wie ich sie schon erwähnt habe, im Einsatz. Es gibt hier  Methoden zur Spracherkennung, das heißt, das, was gesprochen wird, wird in maschinenlesbare Form übersetzt. Es werden weitere Algorithmen angewendet, um zu erkennen, ob Text oder Folien mit Text gezeigt werden. Zudem setzen wir eine von uns eigens entwickelte Methode ein, um die Bildszene anhand des Bildinhalts zu klassifizieren. Diese Metadaten helfen dann den Nutzer*innen des AV-Portals, bestimmte Videoinhalte schneller zu finden. Ein wichtiger Aspekt, den ich noch nicht erwähnt habe, ist die Strukturierung von Videos. Insbesondere dann, wenn Videos eine längere Sequenz beinhalten, also sagen wir einmal über 15 oder 30 Minuten hinausgehen, möchte man vielleicht bestimmte Segmente überspringen oder ein bestimmtes Segment wiederfinden. Deshalb wird das Video in einzelne „Szenen“ unterteilt, in dem das System die Wechsel zum Beispiel zwischen Folienübergängen automatisch erkennt und dann quasi eine Inhaltsübersicht erstellt für ein Video.

eLearning Journal: Vor meinem geistigen Auge sehe ich jetzt ganz viel Personalentwickler und Weiterbildner, die alle sagen „Wow, das hört sich ja spannend an, das könnten wir auch sehr gut gebrauchen“. Was sind denn das für die Zielgruppen, die das bei Ihnen nutzen?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Unsere Zielgruppe sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierende aus allen Fächern. Aber wir als Technische Informationsbibliothek haben einen besonderen Fokus auf die Fächer aus Technik und Naturwissenschaften. Das heißt, wir kümmern uns proaktiv um die Erschließung von Videoinhalten zu unseren Kernfächern wie Mathematik, Physik, Informatik, Chemie, Ingenieurwesen und Architektur. Neben den Vorlesungsaufzeichnungen sind Konferenzaufzeichnung ein weiteres Feld, in dem wir jetzt ebenfalls sehr aktivsind. Für wissenschaftliche Konferenzen oder auch nichtwissenschaftliche Konferenzen oder Tagungen besteht auch die Möglichkeit, es im AV-Portal hochzuladen. Dafür bieten wir auch entsprechende Dienste an.

eLearning Journal: Und wie groß ist diese Lernzielgruppe, die insbesondere jetzt hierauf zurückgreifen kann?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Das AV-Portal steht offen zur Verfügung. Das heißt, alle Videos sind unter entsprechenden CC-Lizenzen verfügbar und insofern können alle darauf zugreifen. Allerdings hängt die Nutzung auch von der Sprache ab, wir haben vor allem Videos auf Englisch und Deutsch. Aber die Plattform ist prinzipiell offen und richtet sie sich vorwiegend an Studierende und Wissenschaftler.

eLearning Journal: Welche konkreten Vorteile hat denn jetzt im Betrieb der Beschäftigte oder wie bei Ihnen der Wissenschaftler oder Student durch so eine Plattform? Hat er einen persönlichen Nutzen davon, dass Sie diese Künstliche Intelligenz einsetzen?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Der erste Nutzen hat noch gar nicht mit der KI zu tun hat. Denn nicht jeder kann einfach Material hochladen, sondern wir prüfen zunächst einmal die Qualität und ob es sich um ein wissenschaftlich relevantes Video handelt. Dann kommt die KI-Methodik ins Spiel, die dabei hilft, ein für mich relevantes Video zu finden, also, dass ich anhand des Inhalts der Videos rascher die Szenen finden kann, für deren Sachverhalt ich mich besonders interessiere und ich eben nicht vorab weiß, welches Video ich dazu brauche. Die Suche wird dadurch unterstützt, dass die Inhalte der Videos, sei es auf Folien oder im gesprochenen oder eingeblendeten Text, erfasst und erschlossen werden. Ein weiterer Nutzen liegt darin, dass, sobald ich ein relevantes Video gefunden habe, ich mithilfe der automatischen Erschließung sehr viel besser durch dieses Video navigieren kann. So sehe ich, wie ein Video in Szenen unterteilt ist, und kann mir die dazugehörigen Stichworte anzeigen lassen, oder auch nach einzelnen Stichworten suchen.

eLearning Journal: In der betrieblichen Bildung gibt es ja eine ganze Menge Stakeholder, die an diesem Prozess der digitalen Transformation der betrieblichen Bildung beteiligt sind. Da gibt es den direkten Vorgesetzten, es gibt die Personalabteilung, es gibt die Weiterbildungsabteilung, die IT-Abteilung und natürlich auch den Betriebsrat. Brauchen diese Akteure in der betrieblichen Bildung ganz bestimmte Kompetenzen, um das auch anwenden zu können?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: So ein Portal, wie wir es hier entwickelt haben, nutzt die Videos so, wie sie erstellt worden sind. Hier würde man kein spezifisches Knowhow benötigen. Aber wenn man Videos zum Zwecke des Lernens erstellt, dann ist es natürlich wichtig, dass man verschiedene Aspekte bei der Erstellung von Videos beachtet. Zum Beispiel, sollte ein Video gar nicht länger als sechs Minuten sein, das ist so eine Orientierungszahl für MOOC-Plattformen (Massive Open Online Course). Ein anderer Aspekt ist, dass man, wenn man einen Foliensatz gezeigt bekommt, die sprechende Person auch sieht. Und generell zu beachten ist natürlich , wie man ein Lernvideo gestalten sollte, da gibt es Theorien aus der Psychologie, zum Beispiel die Multimedia Learning Theory, aus der sich einige wichtige Gestaltprinzipien ableiten lassen.

eLearning Journal: Wenn ich jetzt in der betrieblichen Bildung sage, Mensch, das überzeugt mich, das ist auch etwas für uns! Allerdings gibt es mittlerweile gerade bei den großen Unternehmen tausende bis abertausende Videos und da ist es natürlich auch eine Frage der Datenmenge bis sich das rentiert. Wie kann ich an ein solches Knowhow, was Sie beschrieben haben, herankommen? Rufe ich dann bei Ihnen an und sage, packen Sie mal 2 Tüten mit Künstlicher Intelligenz ein?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Ja, das wäre so eine Möglichkeit. Man kann mich sehr gerne kontaktieren oder meine Kolleginnen und Kollegen an der TIB. Tatsächlich arbeiten wir gerade daran, das AV-Portal auch als Open Source zur Verfügung zu stellen und dann entsprechende Dienstleistungen anzubieten, damit diese Technologie weiter genutzt werden kann. So könnte man es als eigenes System weiterentwickeln. Ein anderer Aspekt wäre natürlich, dass man andere große Videoplattformen nutzen möchte, um zum Beispiel eine größere Reichweiter zu erlangen. Dann ist die Lage etwas anders, denn dann muss man seine Inhalte dementsprechend optimieren und platzieren und hat klare Verweise und hat die Erschließung nicht mehr in der eigenen Hand. Es hat alles Vor- und Nachteile.

eLearning Journal: Sie hatten vorhin erwähnt, dass Sie mit dem Hasso-Plattner-Institut ein Stück des Weges gemeinsam gegangen sind. Ist man da in Deutschland verbunden in den Wissenschaftsinstituten oder haben Sie diese Pionierarbeit für sich und die anderen machen das parallel oder vielleicht später auch noch einmal?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Viele Forschende in dem Gebiet mit den jeweiligen speziellen Fokussierungen kennen sich natürlich. Wenn ich jetzt hier anfange, wird es schwierig, das alles aufzuzählen. Das Hasso-Plattner-Institut hatte ich erwähnt oder auch das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Dann fängt man also an und hat gleich jetzt schon andere nicht erwähnt, da gibt es natürlich noch einige. Wenn es um das Thema Lernen mit Videos geht, dann ist das natürlich eine kleinere Gruppe von Forschenden oder Instituten im Vergleich zum gesamten Themenkomplex.

eLearning Journal: Ich wollte Sie natürlich nicht auf das Glatteis führen. In Niedersachsen haben wir natürlich auch Professor Kühnberger, nicht dass Sie da nachher ein Dissens reinbekommt, weil er nicht erwähnt wurde. Beim DFKI gibt es natürlich auch mehrere, die sich damit beschäftigen. Ob wir uns Professor Oliver Thomas, Professor Igel anschauen oder auch Professor Niels Pinkwart, der gerade mit dem Hasso-Plattner-Institut diesen KI-Campus am Wickel hat. Aber in der Tat, auch ich reihe mich ein, wir entschuldigen uns bei allen.

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Ich möchte mindestens noch die entsprechenden Fraunhofer-Institute erwähnen. Aber wir erstellen vielleicht eine Liste von allen zusammen, die wir jetzt nicht hier verbal erwähnen können.

eLearning Journal: Sie haben ja den Überblick und können ja auch die Helikopter-Perspektive einnehmen. Wo stehen wir jetzt gerade bei der Künstlichen Intelligenz insbesondere bei der betrieblichen und beruflichen Bildung? Und was meinen Sie, was sind die nächsten Ufer, die wir da erreichen werden?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: In der nahen oder ferneren Zukunft?

eLearning Journal: Ja, in der nahen Zukunft wird es nicht so viel sein, schätze ich mal. Vielleicht nehmen wir mal die mittlere oder fernere Zukunft!

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Also, als Vision kann man sich vielleicht vor Augen führen, dass wir in der Zukunft Systeme haben, die unsere Lernabsichten rascher erkennen. Also Systeme, die schnell erfassen, dass wir etwas lernen möchten und was wir konkret lernen möchten, ob es sich vielleicht um Faktenwissen oder prozedurales Wissen handelt. Und in Abhängigkeit davon bietet sich dann möglicherweise an, unterschiedliche Medien zu präsentieren. Wenn es um prozedurales Wissen geht, wie ich eine Tintenpatrone im Drucker wechsle, ist vielleicht ein Video geeignet für diese Art von Wissen, und für Faktenwissen entsprechend andere Webseiten. In Zukunft haben wir dann vielleicht auch noch Methoden, die die Qualität von Lerninhalten zu einem gewissen Grad automatisch bewerten können oder die Vertrauenswürdigkeit von Quellen. Das ist auch etwas, woran gearbeitet wird. Ein weiterer wichtiger Zukunftsaspekt ist, den Wissensstand und Wissenszuwachs von Lernenden zu erkennen. Zum Beispiel automatisch messen zu können, ob sich beim Ansehen eines Videos ein Wissenszuwachs verzeichnen lässt oder nicht. Und dazu gehören natürlich vielfältige Aspekte, wie die Frage, ob man das Wissen und die kognitiven Fähigkeiten von Lernenden modelliert, oder auf der anderen Seite, wie man dann auch das Domänenwissen modelliert etc. Da sind wir im Bereich der semantischen Wissensrepräsentation, also, dass man solche Arten von explizitem Wissen und Modellen nutzt für maschinelle Lernverfahren, die dann versuchen, passgenaue Empfehlungen zu geben oder Wissenszuwachs automatisch zu schätzen. Ein weiterer ganz wichtiger Aspekt, den ich aufführen will, ist, dass Lernen ja in der Regel kein passiver Prozess ist. Wenn ich mir eine Playlist zusammenstelle mit zwei Stunden Videos, dann führt das letztendlich nicht automatisch zu einem Lernvorgang bei mir. Und da ist es dann auch noch wichtig, dass ich bestimmte Dinge vielleicht übe, dass ich Wissen vertiefe, und in Zukunft sollten oder können dann maschinelle Systeme auch passgenaue Tests präsentieren wie Quizfragen oder andere Aufgaben. So sollen wir uns dann als Lernende einmal eine halbe Stunde mit einer Übung beschäftigen, um dann zu messen, ob wir etwas dazugelernt haben oder nicht.

eLearning Journal: Wie weit weg ist denn dieser Blick, den wir in die Zukunft werfen? Sprechen wir da über 3, 5 oder 10 Jahre? Wird das selbstfahrende Auto vorher fertig sein? Wie schätzen Sie diese Reisegeschwindigkeit ein?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Die Reisegeschwindigkeit – das ist eine gute Frage. An den Punkten, die ich gerade aufgezählt habe, wird zurzeit geforscht. Ich würde sagen, dass wir da noch von mindestens fünf Jahren ausgehen müssen, bis wir so ein System im praktischen Einsatz haben, das diese skizzierten Aspekte in zufriedenstellender, intelligenter Weise durchführen. Es wird wahrscheinlich noch etwas länger dauern, denn das Thema Lernen ist die übergreifende Klammer, und es gibt unglaublich viele unterschiedliche Domänen und Arten von Wissen. Meine persönliche Prognose liegt damit deutlich über den fünf Jahren, das können wir dann in fünf Jahren überprüfen.

eLearning Journal: Aber das ist schon mal ein Pflock im Wasser, denn Sie sind der Experte. Wir stehen staunend davor und fragen uns, ob Künstliche Intelligenz die letzte Brückentechnologie bis zu dem Lernimplantat ist. Aber wenn wir noch einmal diesen Begriff „Künstliche Intelligenz“ nehmen. Am Anfang des Jahres war es das Schwerpunktthema auf der LEARNTEC, der Mutter aller eLearning-Veranstaltungen. Da ist auch der Unternehmenssprecher vom DFKI, Reinhard Karger, aufgetreten und da ist mir wieder aufgefallen, dass es ganz viel Marketinggeklapper gibt, bei dem der Begriff der Künstlichen Intelligenz als Etikett benutzt wird. Aber wo fängt Künstliche Intelligenz eigentlich an? Sprechen wir nicht insgesamt noch sehr stark von schwacher Künstlicher Intelligenz?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Insgesamt sprechen wir heutzutage von schwacher Künstlicher Intelligenz. Ich denke, dass nicht immer, wo KI draufsteht, auch wirklich KI drinsteckt, also etwas, dass man zum Beispiel im Bereich semantischer Wissensreproduktion oder maschinelles Lernen einordnen würde. Oft ist hoffentlich etwas drin, was dieses Etikett KI verdient. Das könnten dann zum Beispiel maschinelle Lernverfahren sein. Ich denke, es gibt ein Missverständnis in der Erwartungshaltung an Künstliche Intelligenz. Es wird erwartet, dass es intelligente Systeme im Sinne von menschlichen Fähigkeiten oder in einer etwas umfassenderen Intelligenz gibt. Meistens handelt es sich aber bei den KI-Systemen um Automatisierungen, die lediglich bestimmte, ganz spezifische Aufgabenstellungen besonders gut erledigen können – manchmal vielleicht sogar besser als der Mensch, gerade wenn es um große Datenmengen geht und diese zu erschließen. Aber es ist keine Intelligenz im menschlichen Sinne, also auch keine starke KI zu finden. Ich verwende an der Stelle gerne den Begriff der Automatisierung: wir können heutzutage Aufgabenstellungen zur Mustererkennung automatisieren, bei denen wir vor einigen Jahren noch relativ erhebliche Schwierigkeiten hatten. Da ging es beispielsweise darum Bilder zu klassifizieren oder das Problem der Gesichtserkennung in Bildern zu lösen. Da haben wir heute Systeme, die in einem spezifischen Teilbereich, also für spezifische Aufgabenstellungen, sehr gut sind. Und die können in bestimmten experimentellen Szenarien sogar besser sein als der Menschen. Aber das sind, wie gesagt, sehr spezifische Aufgabenstellungen, wo es in der Regel um größere Datenmengen geht. Deshalb favorisiere ich eigentlich den Begriff von Automatisierung an dieser Stelle, aber der klingt natürlich nicht ganz so aufregend wie KI.

eLearning Journal: Ich weiß, dass Sie auch in anderen Forschungsprojekten mit drin stecken in der betrieblichen Bildung und da würde ich gerne noch ein Thema ansprechen. Dort nimmt das Feld des informellen Lernens einen immer größeren Raum ein. Das hatte mal vor paar Jahren angefangen mit dieser griffigen Formel 70:20:10, die das Bewusstsein in den Personalabteilungen und in den Weiterbildungsabteilungen dahingehend geschärft hat, „Ach, wir beschäftigen uns ja nur mit diesen 10 % des formellen Lernens.“ Der Lernprozess im Unternehmen ist ja vielmehr ein arbeitsplatznaher Prozess, wo ich im Learning by Doing, just in time eine Information oder ein schnelles Learning brauche. Also, man schaut dahin, wie man dieses informelle Lernen unterstützen kann. Zum Beispiel durch Performance Support oder was da für griffige Worte unterwegs sind. Sie haben auch ein Forschungsprojekt zum informellen Lernen, womit beschäftigen Sie sich da?

Prof. Dr. Ralph Ewerth: Genau, unser Forschungsprojekt heißt SALIENT und die ersten drei Buchstaben finden sich in den Worten „Search as learning“ wieder, ein Feld aus dem Bereich Information Retrieval. In dem Projekt geht es um das informelle Lernen mit Suchmaschinen. Hier ist die Fragestellung, wie wir Suchmaschinen nutzen, um etwas zu lernen und nicht um den nächsten Urlaub zu buchen, was in diesen Zeiten vielleicht ohnehin seltener geschieht. In dem Projekt beschäftigen wir uns mit ganz verschiedenen Aspekten, die ich vorhin auch schon angedeutet habe. Wenn man jetzt in die Suchmaschine eingibt „Was ist Künstliche Intelligenz?“, dann soll die Suchmaschine erkennen, dass etwas gelernt werden möchte, nämlich, dass der User etwas über KI erfahren möchte. Dann ist es auch wieder wichtig, den Wissensstand zu erkennen etc., um dann die Suchergebnisse dahingehend zu optimieren, den Lernprozess zu unterstützen. Das können die Suchmaschinenergebnisse von heute nicht, denn da sind andere Ziele im Hintergrund, gerade bei kommerziellen Anbietern. Unser Hauptfokus in dem Projekt SALIENT ist, wie mit Multimediadaten informell gelernt wird. Wie du eingangs so schön erklärt hast, werden Videos immer häufiger zum Lernen genutzt und das ist etwas, was wir in Studien im Rahmen des Projekts SALIENT auch sehen konnten. Das Projekt führen wir gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen durch, das sind Partner aus der Psychologie, die uns unterstützen. Zudem sind das Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften und das Forschungszentrum L3S der Universität Hannover beteiligt. Wir haben erste Laborexperimente durchgeführt. Hierzu gaben wir den Teilnehmenden Lernaufgaben, für die sie 30 Minuten Zeit hatten. Sie sollten sich mit dem Thema Blitz und Donner beschäftigen, wie sich Gewitterwolken formieren und welche physikalischen Prozesse dem zugrunde liegen. Da hat sich gezeigt, dass die Teilnehmenden sehr gerne auf Videos zurückgriffen und dass ein Drittel der Zeit mit dem Schauen von Videos verbracht wurde. Das führt zu der spannenden Frage, wann so ein Video hilfreich ist, um etwas in einem solchen informellen Setting dazuzulernen? Was sind die wesentlichen Features? Wie können wir die Qualität von solchen Videos automatisch erkennen und bewerten, um dann passgenaue Videos vorzuschlagen? Das ist so die große Klammer, die sich um unser Projekt spannt.

Redaktion: Lars Wicke

Beitragsbild: AdobeStock – Kirill


Profil

Prof. Dr. Ralph Ewerth

seit 2015 ist Dr. Ralph Ewerth Professor an der Technischen Informationsbibliothek (TIB) der Leibniz Universität Hannover. Er ist Leiter der Forschungsgruppe „Visual Analytics“ und gemeinsam mit seinem Team widmet er sich Themen wie Information und Multimedia Retrieval und ist in einer Vielzahl von Projekten involviert. In dem SALIENT-Projekt gehen die Kollegen der Erkennung, Vorhersage und Verbesserung von Lernprozessen bei der multimodalen Websuche auf den Grund. Egal, wie die Zukunft des Lernens aussehen mag, Dr. Ewerth wird sie mitgestalten.

 


Literatur

Christian Otto / Matthias Springstein / Avishek Anand / Ralph Ewerth:

Characterization and classification of semantic image-text relations

In dem im International Journal of Multimedia Information Retrieval erschienenen Fachartikel zum semantischen Verhältnis von Bild- und Textmaterial gehen die Autoren speziell auf Anwendungsfelder im Bereich des computerbasierten Sehens und der Multimedia-Forschung ein. Hierzu beschäftigen sie sich mit dem kommunikationswissenschaftlichen Problem, dass Bilder teilweise schärfere Aussagekraft als Worte haben, und erweitern ebenso das Modell der Metrik um eine weitere: den Status. Dieses wiederum findet Anwendung auf die acht Klassen der Text-Bild-Semantik. Zudem werden im Hauptteil des Artikels entsprechende Experimente zum Thema vorgestellt.

Publikation: International Journal of Multimedia Information Retrieval


Kontakt

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