Vom Training zur Agilen Lernbegleitung

Im März 2020 kamen Millionen Deutsche erstmals mit agilem Lernen in Berührung. Wegen der Covid19-Pandemie richteten sie ihr Homeoffice ein – und lernten von jetzt auf gleich, etwa virtuell an Meetings und Konferenzen teilzunehmen. Nur wenige waren mit den Tools für Videokonferenzen vertraut. Binnen weniger Tage lernten sie auf eigene Faust den Umgang mit der Technik. Sie fahndeten im Internet nach Erklärvideos und Online-Artikeln, suchten telefonisch Hilfe bei Kollegen und machten sich in Internet-Foren schlau. Damit waren Mitarbeiter nicht nur im virtuellen, digitalen Arbeiten angekommen – sondern auch im agilen Lernen. Wenn-gleich vielfach unbegleitet und mit „Holperstart“.

Solch „ungeplanter“ Lernbedarf wird immer häufiger. In der dynamischen, agilen Welt von Unternehmen brauchen Mitarbeiter häufig ad-hoc Wissen. Dynamisches Marktgeschehen, veränderte Kundenanforderungen und neue Technologien fordern von Unternehmen, sich schnell zu verändern. Mitarbeiter stehen deshalb laufend vor neuen, ihnen bislang unbekannten Herausforderungen – für die sie schnell, flexibel, individuell und passgenau neues Wissen brauchen. Sie lernen im „moment of need“ und eignen sich Kompetenz an, um an einer Aufgabe weiterzuarbeiten oder ein Problem zu lösen – etwa durch Erklärvideos, Online-Kurse, Foren oder im Austausch via Chat. Das nennt man üblicherweise Agiles Lernen. Die Lernenden erkennen den Bedarf am besten selbst, und sie wissen, was genau sie brauchen. Dieses wird von Unternehmen immer mehr akzeptiert. In der Organisation und Führung sind längst Prinzipien von Eigenverantwortung, Empowerment und Augenhöhe verankert. Dies findet auch seinen Niederschlag beim Lernen.

Aber: Agiles Lernen bedeutet nicht, dass langfristig durch Personalentwickler geplante Weiterbildung gänzlich an Bedeutung verliert. Weiterhin wird geplanter Kompetenzaufbau durch breite Qualifizierungsmaßnahmen erforderlich sein. Agiles, stark selbstgesteuertes und eigenständiges Lernen ergibt immer dann Sinn, wenn sich das Unternehmen oder auch einzelne Abteilungen in stark dynamische Kontexten bewegen. In klassischen Bereichen wie Produktion oder Buchhaltung dagegen setzen Unternehmen eher auf gesteuerte Qualifizierungsprogramme.

Durch die neuen, insbesondere digitalen Lernformaten – sind Lernen und Kompetenzaufbau vielfältiger und bunter geworden. Der pädagogische Werkzeugkasten erfolgreicher Weiterbildner ist größer denn je. Was aber nicht heißt, dass heute automatisch effizienter gelernt wird. Ein Beispiel: Digitales und selbstgesteuertes Lernen hilft, einfache Probleme schnell zu lösen. So können Mitarbeiter mittels Erklärvideos lernen, wie sie mit einer Softwarelösung für Videokonferenzen richtig umgehen. Aber: Wie sie beispielsweise online professionell verhandeln, dies lässt sich nicht allein durch E-Learning vermitteln. Dazu braucht man mehr, etwa an die Vorkenntnisse der Teilnehmer angepasste face-to-face oder Online Trainings mit Übungsmöglichkeiten und qualifiziertem Feedback. Ähnliches galt März 2020 beim Start in die Homeoffice-Welt. Bis die virtuellen Meetings wirklich reibungslos liefen, kostete es viele Anläufe, Fehlversuche und blank liegende Nerven. Ein agiler Lernbegleiter könnte den Mitarbeitern als Lerncoach zur Seite stehen, und er könnte als Lerndesigner ein Tutorial mit wirksamen Lernprozessen entwickeln.

Agile Lernbegleitung unterstützt Lernende, effizienter zum (Lern-)ziel zu kommen. „Agil“ betont in diesem Zusammenhang, dass der Lernbegleiter agil vorgeht (im Gegensatz zu langfristig geplanter Weiterbildung). Der agile Lernbegleiter reagiert schnell auf entstehenden Bedarf. Er schöpft aus der reichen Menge von Lernformaten (vom klassischen Training im Seminarraum bis hin zu selbstgesteuerten Communities). Aus ihnen gestaltet er wirksame, an den augenblicklichen Bedarf angepasste Lernprozesse. Zudem begleitet er als Lerncoach die Lernenden und unterstützt sie individuell beim Aufbau jener Kompetenzen, die sie zur Bewältigung ihrer konkreten Aufgaben benötigen.

Für Lernbegleiter steht die Effizienz im Vordergrund. Zum einen geht es um Performanceorientierung, zum anderen um die Relevanz von Wissen, beides zentrale Begriffe bei der agilen Lernbegleitung. Ein Beispiel für Performanceorientierung: Ein Mitarbeiter braucht neue Kompetenzen, um die Anforderungen eines Kunden schnell umzusetzen. Die erste Frage gilt der Performance: Wozu braucht der Mitarbeiter dieses Wissen genau? Wo liegt seine Herausforderung exakt? Wozu sollen die neuen Kompetenzen dienen? Was ist das Performance-Ziel? Viele Lernende tun sich schwer, die persönliche Herausforderung zu beschreiben, vor der sie gerade stehen. Ein Lernbegleiter in der Rolle des Lern-Coachs könnte in dieser Situation helfen, das Performance-Ziel zu klären.

Aus dem Performance-Ziel ergibt sich die Frage, welche Inhalte weiterhelfen. Es geht um ihre Relevanz: Welche Lern-Lösung ist geeignet, das Problem zu lösen und die Aufgabe zu meistern? Das heißt beispielsweise beim digitalen Lernen: Welcher Online-Kurs passt wirklich zu dem bereits vorhandenen Wissen des Lernenden, und zu seiner mentalen Struktur Dies stellt sicher, dass sich der Lernende nicht durch längst Bekanntes arbeiten muss, dass nicht unverständliches Wissen ihn überfordert oder dass er keine Antworten auf seine konkreten Fragen findet.

Die Performanceorientierung und die Relevanz von Inhalten sind der erste Schritt zum Lernerfolg. Aus dem gelernten Faktenwissen muss Handlungswissen werden. Es muss nachhaltig am Arbeitsplatz ankommen. Das Anschauen eines Lehrvideos reicht dafür häufig nicht aus. Das Wissen bleibt „graue Theorie“ und findet keinen Eingang in die Praxis; der Lernende verankert es nicht in seinem täglichen Tun und macht keine echte Kompetenz daraus.

Das Aufnehmen von Wissen ist nur eine Station, wenn Menschen sich neue Kompetenzen aneignen. Weitere Stationen folgen; wir sprechen von einer Lernschleife. Nach dem Lernen probiert der Lernende das neue Wissen aus. Er erhält Feedback etwa von Kollegen, Führungskräften oder Lernbegleitern. Danach verbessert er sich und seine Arbeit. Die Lernschleife führt also von der Station „Lernen“ über die Stationen „Ausprobieren“ und „Feedback“ bis zur Station „Optimierung“. Je mehr Lernschleifen es in einem Lernprozess gibt, desto nachhaltiger wird aus dem Wissen eine Kompetenz und die neue Kompetenz in die Praxis überführt.

Das Problem: Fehlt eine Station auf dieser Schleife, bleibt der Lernende im Lernprozess stecken. Erhält er beispielsweise kein Feedback, fühlt er sich nicht ermutigt und kann sich nicht verbessern. Für die unterschiedlichen Stationen auf dieser Lernschleife bieten sich spezialisierte Formate an. Beim Feedback können beispielsweise Mentoring oder kollegiale Beratung helfen. “Do & Reflect”-Ansätze helfen beim ersten Umsetzen von Wissen, Praxisaufgaben beim späteren Optimieren. Entscheidend ist, dass im Unternehmen die Rahmenbedingungen auf diese agilen Lernprozesse ausgerichtet sind. Nicht nur die Ressourcen und die Technik müssen erfolgreiche Lernschleifen ermöglichen, sondern auch die Führung (Feedback durch Führungskräfte!), die Lernkultur und die Strategie des Unternehmens.

In erfolgreichen Lernschleifen sind häufig grundverschiedene Lernformate kombiniert, die verschiedene Arten von Lernen im Sinne von „Blended Learning“ ermöglichen: „gesteuertes und selbstgesteuertes Lernen, formales Lernen und informelles Lernen

  • Formalgesteuerte Formate wie Online- und Face-to-Face-Trainingseinheiten. Der Lernende probiert unter der Leitung eines Trainers in einem geschützten Raum Neues aus und bekommt Feedback
  • Formal-selbstgesteuerte Formate wie Lernvideos, Webbased Trainings oder Online-Kurse eigenen sich hervorragend für das Lernen von Faktenwissen. Der Lernende folgt einem Lernprogramm, organisiert seinen Lernprozess aber selbst. Formate wie Serious Game, oder Augmented Reality gehören ebenfalls in diese Gruppe.
  • Informell-gesteuerte Formate für strukturierten Erfahrungsaustausch, etwa Barcamps oder Kollegiale Beratung. Der Austausch ist geleitet; die Verantwortung für das Lernen liegt aber bei den Lernenden selbst. Dazu zählen auch Formate wie Q&A Sessions oder Daily Feedbacks.
  • Informell-selbstgesteuerte Formate, etwa der Austausch in Netzwerken, Communities of Practice oder das eigenständige Suchen von Informationen via Internet. Trainer sind nicht beteiligt.

Die Chance für agiles Lernen liegt in einer geschickten Kombination der vielfältigen Formate, in der starken Performanceorientierung sowie in der professionell gestalteten Lernschleifen. Dies alles bringt Veränderungen für L&D-Verantwortliche sowie besonders für Trainer. Was die Trainer betrifft: Im Konzert der verschiedenen Lernformate spielt das klassische Training im Seminarraum zwar weiterhin eine Rolle, doch macht es vielen neuen Formaten Platz. Gemessen am Gesamtumfang der Weiterbildung wird das klassische Training weiter in den Hintergrund treten. Es bildet nicht länger das Rückgrat der Weiterbildung, sondern ist „nur“ ein Element in ihr. Viele langjährige Trainer entwickeln sich deshalb zu agilen Lernbegleitern. Nicht wenige Fachleute sehen in der Transformation die Zukunft des Trainerberufs – wobei es allerdings nicht nur um neue Aufgaben geht, sondern um komplett neue Rollen. Zum Beispiel:

Die klassische Rolle des Trainers. Der Trainer unterstützt online oder offline beim Lernen und Üben neuer Fertigkeit. In der Rolle des Face-to-Face-Trainers setzt er zudem Methoden wie Training on the Job oder Shadowing ein und führt Austauschformate wie das Barcamp durch. Wichtig: Moderne Trainer können sowohl digital als auch analog im Seminarraum arbeiten.

Die Rolle des Lernvideo-Gestalters. Das Lernvideo ist das moderne Flipchart. Diese Lernvideos lerngerecht zu erstellen gehört heute zum Handwerkszeug, das jeder Trainer beherrschen sollte (wie einst die Moderationsschrift).

Die Rolle des Lerncoachs. Gemeinsam mit dem Lernenden stellt er Lernbedarf fest und begleitet ihn als Sparringspartner. Aus welchem Anlass werden neue Kompetenzen benötigt, um die Performance zu steigern? Welches Wissen und welche Lernformate sind relevant, um Lernschleifen erfolgreich umzusetzen? Welche Lernwege bieten sich individuell für den Lerner an? Wie kann er durch wen unterstützt werden?

Die Rolle des Kulturentwicklers. Lernen braucht ein lernfreundliches Klima in der Organisation. Dies reicht von einem Zeitbudget für das Lernen über Vertrauen und eine offenes Feedbackkultur bis hin zur aktiven Unterstützung durch Führungskräfte und andere Stakeholder.

Die Rolle des Lerndesigners. Der Lerndesigner kombiniert die verschiedenen Lernformate so, dass ihre jeweilige Stärken genutzt und Schwächen kompensiert werden – und ein optimaler Lernprozess mit Lernschleifen entsteht. Aus einem Lerndesign geht hervor, welche Lernformate innerhalb eines Lernprozesses für welche Inhalte und mit welchem Lernziel miteinander kombiniert und verzahnt werden. Je nach Zielgruppe, Thema und organisationalen Rahmenbedingungen können Lerndesigns sehr unterschiedlich gestaltet sein.

Diese Transformation zum agilen Lernbegleiter verlangt Trainern einiges ab. Früher waren sie quasi Hauptdarsteller, Experte und Ankerpunkt im Lernprozess. Sie wussten, was Lernende brauchen. Heute stehen die Lernenden selbst auf der Bühne. Sie kennen ihren Wissensbedarf, sie wollen effizient und flexibel lernen. Der Trainer steht am Rande und wird zum Begleiter, gelegentlich zum Nebendarsteller. Diese Transformation mögen klassisch geprägte Trainer als schmerzlich empfinden – zumal sie viele zwingt, selbst neue Kompetenzen zu erwerben und sich auf die verschiedenen Rollen vorzubereiten. Doch das Ziel ihrer Arbeit verändert sich im Grunde genommen nicht. Die Lernwege werden vielfältiger. Doch ihr Zweck – nämlich das Ermöglichen vom Lernen – bleibt unabhängig von neuen Formaten und Medien


Kontakt:

Dr. Jürgen Sammet
Dr. Sammet & Wolf

sammet@drsammet-wolf.de
www.drsammet-wolf.de