In der Spieltheorie, welche eine der interessantesten Theorien der Mathematik darstellt, wird das vollständig beschreibbare Spielverhalten eines Spielers als Strategie bezeichnet. Dabei werden unter Spiel nicht Mensch-Ärger-Dich-nicht, WoW, Dungeons and Dragons oder Poker verstanden. Spiele sind die Entscheidungs- und Verhaltensmuster der Beteiligten, die sich mit ihren Entscheidungen gegenseitig beeinflussen. „Die Beschreibung eines Spiels erfordert zunächst die Identifizierung der Spieler, die den noch zu definierenden Spielregeln unterworfen sind.“ (Leiningner, W. & Amann, E.: Einführung in die Spieltheorie, Dortmund 2008, S. 13.) Wenn das so ist, lassen Sie auf den folgenden Seiten einmal E-Learning spielen?!
Panik ist ein schlechter Ratgeber. Im Zuge des durch die Pandemie verursachten Lockdowns verfielen jedoch viele Unternehmen, öffentliche Bildungseinrichtungen, Kultusministerien und Elternhäuser (im Folgenden Organisation) in diesen Modus. Das Corona-Virus wirkte wie ein Brennglas, ein Katalysator, welche die bereits vorhandenen Mängel in den Fokus rückten und diese sogar in deren Wirkung noch verstärkten. Ohne klare Konzepte und übergreifende Strategien ist ein Einstieg ins E-Learning auch gleichzeitig der Ausstieg. Die in diesem Zusammenhang von mir oft beobachteten Ansätze, überholte didaktische Konzepte und Methoden aus der analogen Lernwelt in ein digitales Korsett zu zwängen, sind eine Ursache. Eine weitere liegt in dem Wunsch, plötzlich trendy sein zu wollen. Da können geltendes Recht, IT-Sicherheit oder Datenschutz schon einmal zur Nebensache werden. „The term `learning ecosystem` is a trendy one in learning and development circeles.” prangt es auf der Startseite eines Anbieters entsprechender Tools. Trends – ohne ein Grundverständnis von deren Wirkprinzipien zu besitzen – sind wie Straßenbahnen und Aktien. Beiden „darf man nie nachlaufen. Nur Geduld: Die nächste kommt mit Sicherheit.“ (André Kostolany – ehemaliger Börsenguru) Die Effektivität und Nachhaltigkeit des Nachlaufens nach solchen Trends kann man sich leicht ableiten. Die erste Frage, welche sich E-Learning-Projektverantwortliche stellen sollten: Will ich Getriebener oder Treiber sein – Vor(an)treiber?
Die fünfte Phase
Für die zuvor erwähnte Nachhaltigkeit bedarf es eines Blickes in die strategisch geplante Zukunft über die Vergangenheit kommend. Erpenbeck, Sauter und Sauter unterscheiden in ihrer lesenswerten Monographie „E-Learning und Blended Learning. Selbstgesteuerte Lernprozesse zum Wissensaufbau und zur Qualifizierung“ aus dem Jahre 2015 vier Stufen des E-Learnings. Ein Blick auf diese vier Stufen kann da helfen. Der Start des bekannten E-Learning liegt im Beginn der 90er Jahre mit Formen des Offline-Lernens mittels Computer Based Trainings (Auslieferung via Diskette und später CD-ROM) sowie Telefonkonferenzen und war durch den reinen Wissensaufbau als Ziel geprägt. Die zweite Stufe beinhaltete neben dem Wissensaufbau nun auch die Qualifizierung als Zielgröße und brachte die Formen des Online-Lernens mittels Web Based Trainings (Auslieferung via Internet) in „modernen“ Learning Management Systemen und ersten Formen Virtueller Klassenräume hervor. Die dritte Stufe unterschied sich im Vergleich mit der vorhergehenden nicht bezüglich der Ziele. Neu war jedoch mit Beginn der 2000er Jahre die Verknüpfung von Präsenz und E-Learning mittels des Blended Learning-Ansatzes und deren Etablierung. Am Ende dieser Stufe wurde mit der Kompetenzentwicklung eine weitere Zielgröße definiert und bildete den Übergang zur vierten Stufe, welche ab ca. 2006 durch das selbstorganisierte Lernen geprägt ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird in der Rückschau das Jahr 2020 und die ausgelöste Disruption im Bildungsbereich eine fünfte Stufe eröffnen, welche die vorgenannten Ziele bezüglich der Lerner nun auch auf die Lehrenden und deren Organisationen überführt. Dies wird durch einen Blick auf die „zehn Thesen zur Zukunft der Bildung“ des mmb-Instituts verstärkt (https://www.mmb-institut.de/wp-content/uploads/mmb-institut_10-thesen-zur-zukunft-der-bildung.pdf). L&D-Verantwortlichen sei auch der regelmäßige Blick in die Ergebnisse des Trendmonitors des mmb-Instituts ans Herz gelegt. Nach dieser kurzen Rückschau nun einige Empfehlungen für einen strategisch-planvollen Einstieg ins E-Learning
1. E-Learning erfordert das Vorhandensein einer Selbstlernkompetenz in der Organisation
L&D-Verantwortlichen muss bewusst sein, dass die Einführung digitaler Lernformate auf die bisherigen Lerner sowie Lehrenden und deren Kompetenzen in der Wissensaneignung trifft. Ohne einen Change der Lernkultur der Organisation und des einzelnen Individuums schmeckt der Wurm doch nur wieder dem Angler und nicht dem Fisch. Die Trainer, Lehrer und Führungskräfte (im Folgenden Lehrenden) wirken in solch „neuen“ Lernumgebungen als Lerncoach, sind als solche zu entwickeln. Die Lernenden werden durch ihre Lerncoachs mit Methoden und Tools zur Entwicklung und Erweiterung der entsprechenden Selbstlernkompetenz befähigt, nachdem die Lehrenden selbst zu Lerncoachs entwickelt wurden. Für Letzteres gibt es bereits etablierte Anbieter. Hier lohnt es sich nach Erfahrungen im eigenen Netzwerk zu fragen.
2. Stakeholder Management
Projekte zur Einführung von E-Learning benötigen ab Beginn ein umfassendes Stakeholder Management. Sämtliche in den einzelnen Projektphasen „Betroffene“ sind zu identifizieren. Dafür empfiehlt sich die Verwendung bzw. Anlage einer Stakeholder-Matrix, in welcher neben der Benennung der Beteiligten auch deren Kompetenzen und Rollen innerhalb der Organisation und innerhalb des Projektes beschrieben werden. Die Arbeitsgruppe „Stakeholder Management“ des „F&E-Netzwerkes“ des eLearning Journals hat bisher ohne Anspruch auf Vollständigkeit 19 einzelne Stakeholder identifiziert. Diese reichen von den üblichen Verdächtigen wie Geschäftsführung, Mitarbeiter und Betriebsrat bis hin zu parallelen Strukturen innerhalb von Schwester-, Tochter- und bzw. oder Mutterunternehmen. Soll also E-Learning in mehreren „Legal Entities“ ausgerollt werden, potenzieren sich die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Stakeholdern. Planen Sie hierfür zu Beginn ausreichend Kapazitäten ein.
3. Begriffsdefinitionen und Planung
Wenn Erwartungen an Projekte und erste Ergebnisse aus diesen einen Gap aufweisen, liegt dies oft an nicht vorhandenen und unklar formulierten Begriffsdefinitionen. Die Kommunikation weist dann eine gewisse Parallelstruktur mit Kommunikationsschleifen auf. Daher sind zu Beginn mit allen Stakeholdern in virtuellen oder „analogen“ Workshops die wesentlichen Begriffe und deren gemeinsames Verständnis zu definieren. Diese sollten dann in ein Wiki übertragen werden, welches von allen Projektbeteiligten für eine saubere Kommunikation genutzt wird und eine Verbindlichkeit erzeugt. Bei Einbeziehung externer Anbieter, Berater und sonstiger externer Dienstleister ist es von noch größerer Bedeutung, ein gemeinsames Verständnis als Grundlage zu schaffen und dies regelmäßig auf seine Wirksamkeit zu überprüfen. Änderungen von Begriffsdefinitionen können dann nur durch eine Hinterfragung der Notwendigkeit dieser Änderung und ein erneutes Commitment auf das geänderte Begriffsverständnis erzielt werden.
Um jederzeit den Überblick über sein Projekt zu behalten, werden gerne Tools aus dem Bereich des Projektmanagements und der Kollaboration genutzt. Bevor für diesen Zweck neue Anwendungen eingeführt werden, sollte erst geklärt werden, ob in der Organisation bereits Lösungen wie „Microsoft Project“ o.ä. vorhanden sind. Sollte also bereits Office-365 im Einsatz sein, erfüllt die App „Planner“ innerhalb von „MS-Teams“ ebenfalls grundlegende Anforderungen. Sind diese nicht existent, können je nach Anforderung auch Opensource und kostenlose Programme wie „Bitrix24“, „Libreplan“, „Ganttproject“ und „OpenProject“ in der Community-Version oder „MasterTask“ ausreichend sein. Letzteres und auch „Bitrix24“ bieten sogar iOS- und Anroid-Apps für die Zusammenarbeit. Für eine groben Überblick und ein erstes Mind-Mapping sind Anwendungen wie „FreeMind“ oder „XMind“ nützlich.
4. Zielgruppen – Für wen soll E-Learning eingeführt werden?
Eine klare Definition der Zielgruppen beinhaltet neben der Benennung der Rollen innerhalb der Organisation auch die Benennung harter und weicher Faktoren, welche mit diversen Fragen ermittelt werden. Wie viele Lerner sind „betroffen“? Wie hoch ist der Anteil an Vollzeit und Teilzeit? Welche Sprachen werden benötigt? Mit unterschiedlichen Sprachen sind welche unterschiedlichen kulturellen Besonderheiten zu beachten? Sind die Vorkenntnisse der Zielgruppen heterogen oder homogen? Sollen auch externe Nutzer wie Freelancer als Trainer, Kunden, potenzielle Mitarbeiter in der Bewerbungs- und Onboarding-Phase oder duale Studenten angebunden werden? Auf welches Mindset und welche Nutzer-Hardware muss sich bei der Einbindung Externer eingestellt werden?
Dies war ein Absatz voller Fragen. Und mit den Antworten können dann sogenannte Personas erstellt werden. Um für diese dann noch die entsprechenden Bedürfnisse an ein E-Learning zu ermitteln, werden im nächsten Schritt Umfragen, kontextuelle Interviews und bzw. oder Benutzertests durch Pilotgruppen herangezogen. Die definierten Personas sollen ein einheitliche Bild der Zielgruppen innerhalb des Projektes vermitteln und bilden eine wesentliche Basis für die strategische Einführung von E-Learning unter dem Gesichtspunkt der nutzerzentrierten Gestaltung dieser interaktiven Systeme – UX-Design (User-Centered Design). Es sollte unbedingt zwischen den grundlegenden Zielgruppen des einzuführenden E-Learnings und den später entstehenden individuellen Zielgruppen einzelner Learnings unterschieden werden.
5. Ziele – Welche Ziele werden mit der Einführung verfolgt?
Wer kennt es nicht, das oberste Ziel der Einführung von E-Learning – Sparen? Statt 5 Tage Kommunikationsstrategien in einem Präsenzseminar zu vermitteln und zu üben, soll der L&D-Bereich dies in einem zweistündigen Webinar umsetzen. So der Wunsch der Organisationsleitung. Die Sinnhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung ist mit Fragezeichen versehen. Dennoch begegnen wir sehr oft diesem obersten Primat. Dabei sollten sich die Ziele des L&D-Bereiches und damit auch des E-Learnings aus den Anforderungen für die Entwicklung der Lernenden ergeben, die sich wiederum aus den Strategien der Organisation ergeben. Doch auch hier wird oft durch eine „Überstandardisierung“ der Blick verengt. Denn „in diesem Kontext sind Curricula, die von zentralen Institutionen, z. B. dem DIHK, vorgegeben werden, nicht hilfreich, auch wenn sich viele Unternehmen sowohl in der Aus- als auch in der Weiterbildung immer noch daran orientieren (müssen?).“ (Erpenbeck. E-Learning und Blended Learning: Selbstgesteuerte Lernprozesse zum Wissensaufbau und zur Qualifizierung, Wiesbaden 2015, S.5.) Diese können lediglich die Basis – sprich den Kern – bilden und sind um organisationsspezifische Ziele, wie zum Beispiel Verbesserung der Qualität von Kundenkontakten, Senkung der Reklamationen und um lernerspezifische Ziele, zu ergänzen. Letztere können neben den Individualzielen auch Elemente aus Zielvereinbarungen beinhalten.
6. Netzwerke
„Picasso sagte einmal: Gute Künstler kopieren, großartige Künstler stehlen – und wir waren immer schamlos dabei, großartige Ideen zu stehlen,“ so Steve Jobs über das Denken und Handeln von Apple. Wie passt dies Zitat zu der Bedeutung von Netzwerken? Der Dieb hat eine fertige Idee, ein funktionierendes Produkt gestohlen, das verglichen mit dem “Original” weniger Fehler aufwies. Und als Novize in einem Netzwerk dürfen Ideen und Konzepte, wenn diese sich bewährt haben, “gestohlen” und für die eigenen Bedürfnisse adaptiert werden. Je erfahrener ein Netzwerkteilnehmer ist, desto bereitwilliger wird dieser sein Wissen und die Erfahrungen teilen. Darum liebe Novizen: Nur Mut, begebt Euch in solche Netzwerke und sprecht die “alten Hasen” an. Nutzt Plattformen wie LinkedIn oder Xing und dortige Fachgruppen, geht zu Seminaren und Kongressen, nehmt an Webinaren teil. Vor dem Start eines Projektes zur Einführung von E-Learning sollte das externe Netzwerk in seinen Grundzügen vorhanden sein – gerade wenn für das Projekt benötigte Kompetenzen nicht vorhanden sind. Spätestens mit dem Start des Projektes sollte sich alleine aus der Stakeholder-Analyse ein internes Netzwerk bilden. Die Bedeutung solch sozialer Netzwerke und deren Steuerung wurde von Niklas Luhmann als “das Bemühen um Verringerung der Differenz” bezeichnet. Gemeint ist die Verringerung der Differenz zwischen einem gewünschten Systemzustand – erfolgreiche Einführung von E-Learning – und einem sich aufzeigenden Systemzustand – mangelhafte Akzeptanz aufgrund technischer Unzuverlässigkeit o.ä..
Bei all den zuvor genannten Ratschlägen kommt am Schluss der wichtigste. Wer nicht für die Sache brennt, kann andere nicht entzünden.
Fazit
Mit den vorgenannten Punkten haben wir die wesentlichen Regeln des „Spiels“ E-Learning benannt und sorgen so für die Vermeidung von asymmetrischen Informationen, bei der einzelne Stakeholder über mehr Informationen verfügen als andere „Spieler“. Ebenso sollte das Entstehen eines Nullsummenspiels, bei der ein vollständiger Interessenkonflikt zwischen den einzelnen Teilnehmern existiert, verhindert werden. Für den Fall, dass sich dies nicht vermeiden lässt, weil zum Beispiel die finale Entscheidung zur Anschaffung eines speziellen LMS oder einer bestimmten Webkonferenz-Software durch einzelne Beteiligte ohne Absprache und damit Einhaltung der „Spielregeln“ erfolgt, empfehle ich den Abbruch des „Spiels“. In diesen Fällen gäbe es kein nachhaltiges und wertiges Ergebnis.
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Der Autor:
Tino Roth
ist zertifizierter Digital Learning Designer der Universität Stuttgart. Nach einem Lehramtsstudium und einer Ausbildung in der Versicherungswirtschaft wirkte der 1973 geborene Autor viele Jahre als Fachtrainer für die Ausbildung von Versicherungs- und Finanzanlagenfachmann/-frau für die Swiss Life Deutschland Vertriebsservice GmbH und verantwortete die Aktualisierung, Weiterentwicklung und Professionalisierung der virtuellen Lernangebote sowie die Integration in bestehende Systeme des Personalmanagements. Seine Expertise bringt er seit Anfang 2019 in diversen Projekten innerhalb der EOS Group ein und freut sich, die Themen Digitalisierung, Change und Learning begleiten zu dürfen.
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Tino Roth
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