Die Möglichkeit, digitales Lernen anhand von Big Data (oder besser Smart Data) in alle Richtungen zu analysieren und über Algorithmen Zusammenhänge zu erstellen, die man als menschliche Fachperson selber nicht sieht, eröffnet neue Möglichkeiten beim Design von Lernsettings. In den letzten Jahren sind Lernsysteme durch Funktionen erweitert worden, die es ermöglichen, personalisierte und individualisierte Lernangebote anzubieten und die Lernzielerreichung ebenso zu unterstützen. In diesem Artikel wird ein Überblick über aktuelle Möglichkeiten gegeben und es wird aufgezeigt, wie Bildungsexpert*innen diese nutzen können.
1. Zusammenarbeit mit Maschinen
Ich gehe davon aus, dass Sie ein Auto besitzen und vielleicht ist es auch erst ein paar Monate oder ein Jahr alt. Dieses Auto ist voller Elektronik und Prozesse, die Entscheidungen treffen, ihnen Informationen zum Auto weitergeben und Sie beim Fahren in vielfältiger Weise unterstützen. Wahrscheinlich sind Sie um vieles froh und sind vielleicht sogar ein besserer Fahrer oder eine bessere Fahrerin geworden. Ganz selbstverständlich findet das Wechselspiel zwischen Ihrem Fahrverhalten und dem Fahrzeugverhalten statt. Es ist aber auch gut möglich, dass Ihr Fahrzeug noch viel mehr könnte. Dinge, die Sie vielleicht per Zufall entdecken oder von denen Sie wissen, dass sie im Handbuch stehen, wenn Sie es denn lesen würden.
Im Bereich digitales Lernen bewegen wir uns in eine ähnliche Richtung. Lernsysteme waren früher ohne eigene Intelligenz und dienten der Ablage von Lernmaterialien, dem Verwalten von Teilnehmenden und dem Anzeigen von Lerndaten. Unterdessen sind aber auch Lernsysteme vollgepackt mit Algorithmen, die Lerndaten erfassen, auswerten, zueinander in Beziehung setzen und in verschiedenen Dashboards und über Kommunikationskanäle mit den Lernenden teilen.
Die Frage ist, ob wir als Bildungsexpert*innen wissen, was moderne Lernsysteme können und ob wir dies für bessere Lerndesign einsetzen können.
In meinen Artikel „Digitales Lernen führt zu einer Renaissance des Präsenzlernens“ im Jahrbuch eLearning & Wissensmanagement 2020 habe ich aufgezeigt, dass digitales Lernen nicht nur neue Formen des Online-Lernens mit sich bringt, sondern auch die Art und Weise verändert, wie wir in Präsenz miteinander lernen. Es gibt zahlreiche spannende neue Möglichkeiten, Lernen im analogen Bereich neu zu gestalten. Im digitalen Bereich geht es im Gegenzug darum, die KI-basierten Möglichkeiten von Lernsystemen zu kennen und deren Arbeitsweise zu verstehen.
These
Auf der Basis von Smart Data und Deep Learning Komponenten wird digitales Lernen in ähnlicher Weise neu erfunden wie Autofahren mit selbstfahrenden Fahrzeugen oder Marketing mit „Programmatic Advertising“.
Lerninhalte, Lerntests und Lernpfade können automatisiert und personalisiert erstellt werden – Lernprozesse werden gemäss dem Lerntempo und dem Lernniveau der Lernenden gesteuert.
Bildungsexpert*innen haben die Aufgabe, Beratung und Support für KI-basierte Lernsysteme anzubieten sowie die empathischen, motivationalen, sozialen und kollaborativen Aspekte des Lernens zu gestalten.
In diesem Artikel wird ausgeführt, wo moderne Lernsysteme stehen, was sie können und wie wir sie für bessere Lernszenarien verwenden können.
2. Was können Lernsysteme heute?
2.1 Das Beispiel
Gudrun Hermann (Persona; keine konkrete Person), Projektmanagerin bei einem mittelständischen Industrieunternehmen, möchten sich bezüglich neuen Projektmanagement-Methoden weiterbilden. Sie ruft auf ihrem Smartphone das firmeneigene Lernportal auf und wird von ihrem persönlichen Lern-Bot begrüsst. Sie fragt: „Gerne würde ich mich mit neuen Projektmanagement-Methoden vertraut machen. Was sind mögliche Angebote?“. Das Lernsystem kennt Gudrun Hermann. Bei der ersten Registrierung wurde sie durch einen Kompetenzen-Prozess geführt. Sie hat sich bezüglich Projektmanagement und vielen anderen Kompetenzen selber eingestuft und wurde durch einige Einstufungstests durchgeführt. Später haben dann auch ihre Kolleg*innen und ihre Vorgesetzten auf Einladung von Gudrun Hermann ihre Einschätzungen abgegeben.
Seither hat sie einige weitere Kursmodule absolviert, zahlreiche Tests und Quizzes abgeschlossen und ihr Wissen in „Battles“ mit demjenigen von Team-Kolleg*innen gemessen. Sie ist stolz, dass sie dabei in 65% aller „Battles“ gewonnen hat. Auf dieser Basis hat das Lernportal ein Profil von Gudrun Hermann angelegt, welches ihre Kompetenzen, ihre Lernaktivitäten und ihre Lernergebnisse enthalten. Mit diesen Daten und den hinterlegten Lernmodellen zu Vergessenskurven, Lerntaxonomien, Kompetenzmodellen etc. können weiterführende Lernaktionen generiert und Deep Learning Komponenten mit konkreten Beispielen trainiert werden.
Gudrun Hermann kann nun ihren eigenen Lernprozess über personalisierte Dashboards einsehen und versteht damit, wie sie lernt und in welchen Bereichen sie besonders gut ist. Das Lernportal hat einen automatisierten Aufgabengenerator und kann für die Bereiche Aufgaben zusammenstellen, die noch trainiert werden müssen. Ein automatisiert zusammengestellter Lernpfad mit Lerninhalten, die ebenfalls maschinell kuratiert wurden, stellt sicher, dass das richtige Lernmaterial bereitgestellt wird.
Über adaptive, personalisierte Tests sowie automatisiertes didaktisches Feedback wird Gudrun Hermann sehr präzise zu besseren Lernergebnissen geführt. Dass die Lernbereitschaft und Lernmotivation nicht immer gleich hoch sind, ist verständlich. Das Lernportal analysiert und begleitet den Lernprozess und hilft ihr mit kleines „Nudges“ („Anstubsern“), motivierenden Mitteilungen („Notifications“) durch die Phasen mit wenig Lernaktivitäten.
Vor allem neues Wissen wird regelmässig wiederholt, so dass es nicht gleich wieder verloren geht („Spaced Repetition“). Die Visualisierung des ganzen Lernprozesses hilft der Lernreflexion. Gudrun Hermann kann ihren Lernstand auch anderen freigeben und sieht so im Gegenzug, wo sie im Vergleich zu ihren Kolleg*innen steht.
Die Lernergebnisse werden schliesslich in Lernportfolios zusammengestellt. Diese können anderen Personen im und ausserhalb des Unternehmens weitergegeben werden. Auf diese Weise kann Gudrun Hermann anderen Kolleg*innen aufzeigen, was sie bezüglich Projektmanagement neu anbieten kann oder mit ihrem Lerncoach und ihren Vorgesetzten über die Erreichung von Entwicklungszielen sprechen.
Das folgende Bild (Abb. 1) zeigt grafisch auf, wie dieses Beispiel in einer Blockgrafik zusammengefasst werden kann.
2.2 Die Funktionen
Die Funktionen in Abb. 1 sind nicht auf ein spezifisches Lernsystem bezogen, sondern zeigen exemplarisch auf, welche zentralen Funktionen in einem modernen Lernsystem enthalten sein können. Diese Darstellung ist aber nicht abschliessend, da viele Einzelfunktionen ergänzt werden könnten.
Dialog mit den Lernenden
- Die Kommunikation mit dem Lernsystem findet über Sprachein- und -ausgabe statt. Ein auf Automatic Speech Recognition (ASR) und Natural Language Processing (NLP) basierender Sprachroboter, der in der Lage ist, akustisch ausgesprochene Fragen zu analysieren, den Sachverhalt zu verstehen und in eine Anfrage umzuwandeln, steht im Dialog mit den Lernenden.
- Je nach Anfrage liefert eine „Recommendation Engine“ ein spezifische Lernempfehlung. Sie ist in der Lage, die Angebote zu suchen und herauszufiltern, die den aktuellen Lernbedürfnissen eines Mitarbeitenden entsprechen und daraus die Lernempfehlung für die nächsten Schritte in einem personalisierten Lernprozess abzuleiten.
Datenquellen | Daten
Es stehen verschiedene Datenquellen zur Verfügung, die dazu beitragen, ein differenziertes Lernprofil der Lernenden anzulegen. Dazu gehören:
- Verhalten der Lernenden (Wahl von Lerninhalten, Lernzeit, Lerndauer, Unterbrechungen, Dropouts etc.).
- Eigene Angaben von Lernenden (Selbsteinschätzungen, Auswahl von Angeboten).
- Lernergebnisse (Testergebnisse, Testzeit, Resultate aus Quizzes, Battles etc.).
- Persönliche Lernhistorie im Learning Record Store (LRS).
- Vergleichsdaten von anderen Lernenden.
Verarbeitung / Training von Deep Learning Komponenten
- Die Lerndaten dienen als Basis, um die nachfolgenden Aktionen zu berechnen sowie als Beispiele, um Deep Learning Komponenten zu trainieren. Lernmodelle und Lerntheorien dienen als Grundlage, um didaktisch-methodische Entscheidungen zu treffen.
Aktionen
- Personalisierte Dashboards: Die Visualisierung von Lerndaten ist wichtig, um den eigenen Lernprozess zu verstehen und zu verbessern.
- Automatisiertes Kuratieren von Lerninhalten: Lerninhalte werden zusammengesucht, geprüft, gebündelt und zu Lernangeboten kuratiert.
- Automatisiertes Erstellen von Lernpfaden: Lernpfade werden auf der Basis des Kenntnisstandes, der zu erreichenden Lernziele und den terminlichen Möglichkeiten zusammengestellt.
- Adaptive, personalisierte Tests: Lerntests passen sich laufend dem Wissensstand der Lernenden an, bieten einfachere oder schwierigere Fragen an.
- Automatisiertes didaktisches Feedback: Lerntests werden automatisch ausgewertet und differenziert kommentiert.
- Automatisierter Aufgabengenerator: Neue Aufgaben werden auf der Basis von Lernergebnisse zusammengestellt.
- Nudging, Activity Manager: Lernsysteme unterstützen Lernende durch Hinweise, Mitteilungen etc. die z.B. über Instant Messaging auf Smartphones gesendet werden.
- Lern-Reflexion und Wiederholung: Lerninhalte werden regelmäßig angeboten, um der Vergessenskurve entgegenzuwirken.
3. Das Lernen der Zukunft basiert auf Smart Data
Wie lernen wir mit Maschinen? Auf der Basis von Smart Data und selbstlernenden Dee-Learning-Komponenten sowie lerntheoretischen Forschungsergebnissen ist es möglich, dass Lernangebote weitgehend automatisiert zusammengestellt und Lernende durch ihren Lernprozess begleitet werden. Wie „Programmatic Advertising“ im Bereich der Werbung mit sehr akkuraten Profilen die richtigen Botschaften am richtigen Ort und zur richtigen Zeit platzieren kann, wird es auch im Bereich Lernen möglich sein, Profile von Lernenden anzulegen, die sich aus unterschiedlichen Datenquellen speisen und so ein personalisiertes, adaptives Lernen ermöglichen.
Für Bildungsexpert*innen stellen sich damit folgende Herausforderungen:
- Sie müssen sich bezüglich Smart Data und Deep Learning Funktionen weiterbilden (z.B. mit ARI, dem KI-Tutor).
- Sie müssen sich mit datenethischen Fragestellungen auseinandersetzen (z.B. Coeckelbergh 2020): Woher kommen die Daten, wie werden sie geschützt, mit welchen Beispielen werden Deep Learning Komponenten trainiert?
- Sie müssen die eigene Rolle als Bildungsexpert*innen neu definieren. Was bleibt, wenn wir mit Maschinen lernen? (z.B. Colvin 2016).
Die Grundlagen für das Lernen auf der Basis von Smart Data sind schon alle vorhanden, aber noch in verschiedenen Produkten und Prototypen verteilt – oder wie es William Gibson ausdrückte: „The future is already here — it‘s just not very evenly distributed“.
Hinweis:
Am 21./22. Oktober 2020 findet im „Brain Gym“ der Swisscom AG in Bern die 11. Learning Innovation Conference zum Thema „Learning Analytics“ statt (www.learning-innovation.ch)
Startups
Es gibt zahlreiche Startups, die sich der Verbindung von datengetriebenem Lernen und Deep Learning Komponenten verschrieben haben. Einige Beispiele sind:
- Cognimates, http://cognimates.me: “Eine KI-Bildungsplattform zum Bauen von Spielen, Programmieren von Robotern und Trainieren von KI-Modellen.”
- CoorpAcademy, https://www.coorpacademy.com: “Eine ‘Learning Experience Platform’ (LEP oder LXP), die die neuesten Innovationen in der Unterrichtsgestaltung, einschließlich Gamifizierung, Mikrolernen, adaptives und soziales Lernen, (…) kombiniert.”
- Domoscio https://domoscio.com: “Domoscio verbindet die Kognitionswissenschaft, Big Data und KI, um adaptive Lernlösungen zu schaffen.”
- Magma Learning, https://www.magmalearning.com: “Ari ist ein persönlicher KI-Tutor, der es Ihnen ermöglicht, jedes gewünschte Thema auf die bestmögliche Art und Weise zu erlernen.”
- SanaLabs, https://www.sanalabs.com: “Personalisiertes Lernen führt nachweislich zu Lerngewinnen für den durchschnittlichen Lernenden in der Größenordnung von zwei Standardabweichungen.”
- Squirel AI Learning , http://squirrelai.com: “Nr. 1. Anbieter von adaptiver Bildung mit Unterstützung von KI in China.”
- Taskbase, https://www.taskbase.com: “Technologien aus den Bereichen Artificial Intelligence und Machine Learning eröffnen neue didaktische Möglichkeiten.”
- Mindfire Foundation, https://mindfire.global: “Die Mindfire Foundation ist eine Schweizer Non-Profit-Organisation, die sich darauf konzentriert, die Prinzipien der menschlichen Intelligenz zu verstehen und diese Prinzipien auf die Entwicklung von künstlich intelligenten Systemen anzuwenden.”
Literatur
Clark, Donald: Nudge Learning. Blogpost, 16.10.2018. https://donaldclarkplanb.blogspot.com/2018/10/nudge-learning.html
Coeckelbergh, Mark: AI Ethics. An accessible synthesis of ethical issues raised by artificial intelligence that moves beyond hype and nightmare scenarios to address concrete questions. MIT Press Essential Knowledge series. (ab 7. April, 2020)
Colvin, Geoff: Humans Are Underrated. What High Achievers Know that Brilliant Machines Never Will. Hodder & Stoughton 2016.
Jobin, Anna; Ienca, Marcello; Vayena, Effy: The global landscape of AI ethics guidelines. Nature Machine Intelligence 1, 389–399 (2019).
Kersting, Kristian; Lampert, Christoph; Rothkopf, Constantin (Hrsg.): Wie Maschinen lernen: Künstliche Intelligenz verständlich erklärt. Springer 2019.
Luckin, R.; Cukurova, M. (2019): Designing educational technologies in the age of AI: A learning sciences‐driven approach. British Journal of Education Technologies, 50: 2824-2838.
MIT Technology Review; “The Algorithm – ein Newsletter für Menschen, die neugierig und hungrig auf die Welt der KI sind.” https://forms.technologyreview.com/the-algorithm/
Otte, Ralf: Künstliche Intelligenz für Dummies. Wiley-VCH 2019.
Rotman, David: AI is reinventing the way we invent. MIT Technology Review. Feb 15, 2019. https://www.technologyreview.com/s/612898/ai-is-reinventing-the-way-we-invent
SwissCognitive – The Global AI Hub: Category “EduTech”; https://swisscognitive.ch/category/edutech/
Tegmark, Max: Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz. Ullstein 2017.
Thiessen, Raphael von, Pabst, Stefan , Sigrist. Stephan (Hrsg.): Decoding Artificial Intelligence. Warum die Künstliche Intelligenz die menschliche braucht. W.I.R.E. Web for Interdisciplinary Research and Expertise. NZZ Libro 2020.
Wilson, H. James / Daugherty, Paul R.: Collaborative Intelligence: Humans and AI Are Joining Forces. In: Harvard Business Review, July-August 2018. Link: https://hbr.org/2018/07/collaborative-intelligence-humans-and-ai-are-joining-forces
Zweig, Katharina: Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl. Wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns das betrifft und was wir dagegen tun können. Heyne 2019.
Der Autor:
Daniel Stoller-Schai, Dr. oec. HSG
ist ein versierter Digital Collaboration & Learning Experte und Geschäftsführer der Collaboration Design GmbH. Daniel Stoller-Schai ist durch seine mehrjährige Praxis davon überzeugt, dass Kollaboration der Schlüssel zum Erfolg in Netzwerkorganisationen ist. Die Strategien, Methoden und Kompetenzen dazu, entwickelt er als Change Companion zusammen mit seinen Kunden. Als Manager für digitale Lern- und Arbeitstechnologien hat er bei Phonak, UBS, CREALOGIX sowie in weiteren Firmen und Startups Kundenprojekte umgesetzt und Erfahrungen mit dem globalen Einsatz internetgestützter Lern- und Arbeitsprojekten gesammelt. Diese Erfahrungen gibt er auch als Programmleiter am Institut für Kommunikation & Führung, Luzern (CAS Arbeit 4.0 | Transformation Toolbox | Digital Deep Dive) und als Head Advisory Board der LEARNING INNOVATION Conference weiter.
Kontakt:
Daniel Stoller-Schai
Change Companion | Founder
Collaboration Design GmbH
www.collaboration-design.ch
daniel.stoller-schai@collaboration-design.ch