Learning Analytics im Bildungsprozess aus Sicht der Wirtschaftspädagogik

„Da werden Heilsversprechungen gemacht“

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler von der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre der Universität Mannheim (UMA) über den Mehrwert von Learning Analytics im Kontext der Erwachsenenbildung.

Was hat Ethik mit Learning Analytics zu tun? Wie können wir mit Algorithmen informelle Lernprozesse unterstützen? Und wie erkennt man eigentlich einen „Risikostudenten“? Prof. Dr. Dirk Ifenthaler stellt sich diesen und weiteren spannenden Fragen im Gespräch mit dem eLearning Journal und zieht zusätzlich anhand der breiten Datenbasis aus über 6000 weltweiten Publikationen, die er mit seinem Team in den letzten acht Jahren analysierte, interessante internationale Rückschlüsse zum deutschen Status quo der Learning Analytics.

eLearning Journal: Herr Professor Ifenthaler, Sie beschäftigen sich ja mit dem Thema Learning Analytics. Und das schon eine ganze Weile. Ist das mittlerweile ein Fulltime-Job oder sind Sie auch noch mit anderen anverwandten Themen beschäftigt?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Das Thema hat mich eigentlich zunächst Anfang der 2000er-Jahre berührt, als die Learning Management Systeme entwickelt wurden. Ich habe mich gefragt: Was passiert denn in diesen Datenbanken der LMS? Ich habe da mal reingeschaut und gleich im Jahr 2001 festgestellt: Da sind ja wertvolle Informationen über meine Studierenden mit dabei. Und ich habe dann versucht, diese Informationen weiterzuverarbeiten. Was man so gesehen hat, ist tatsächlich, dass diese Informationen hilfreich sein können, um zu verstehen, warum benutzen die Studierenden die Materialien zum Beispiel nicht oder wie agieren die Studierenden? Beziehungsweise gibt es Studierende, die gar nicht auf diese Materialien zugreifen? So hat sich das Thema weiterentwickelt. Ich würde sagen, seit den letzten sieben/acht Jahren, ist es inzwischen tatsächlich fast 90 % meines Forschungswirkens geworden. Das heißt, das Thema ist sehr mächtig geworden. 2012 auch mit den unterschiedlichen Massive Open Online Courses, die natürlich noch mehr Daten abgeworfen haben. Da konnte man plötzlich mit vielen Bildungsdaten arbeiten, die man davor nicht zur Verfügung hatte. Somit würde ich schon fast sagen: Es ist nahezu ein Fulltime-Job.

eLearning Journal: Können Sie uns einmal in verständlicher Weise erklären, was sich hinter dem Begriff Learning Analytics verbirgt?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Also, vor 20 Jahren gab es den Begriff Learning Analytics natürlich noch nicht. Der Begriff ist vielleicht so 2009/2010 entstanden, in ganz kleinen Nischenbereichen, und hat sich seit 2012/2013 wirklich etabliert. Ist aber ganz oft falsch verstanden worden. Warum falsch verstanden? Weil Learning Analytics eigentlich wirklich auf eine heuristische Perspektive bei Lehr-/Lernprozessen abzielt. Und aus dieser heuristischen Perspektive heraus das Lernen im Vordergrund steht. Man hat früh erkannt, dass man natürlich mit Bildungsdaten, die vorhanden sind – egal in welcher Institution, sei es in der Schule, Hochschule oder in Unternehmen – auch für Gewinne sorgen kann bei den Stakeholdern, die involviert sind. Aber Learning Analytics an sich sind eine Verwendung von statischen und dynamischen Daten, die in Lernprozessen entstehen, für die Modellierung und Optimierung von diesen Lehr-/Lernprozessen, aber auch von Curricula und informellen Bildungsprozessen. Dafür wird der Kontext verwendet, der auch viele Daten aufbereitet beziehungsweise zur Verfügung stellt, die aber nicht immer direkt verfügbar sind. Das heißt, ich als Lernender würde wahrscheinlich erst mal nicht preisgeben wollen, wo meine Schwächen liegen. Aber man versucht natürlich in Learning Analytics Systemen auch genau diese Daten zu sammeln, um es für die Optimierung der Lerninhalte bereitzustellen. Lernen steht also im Vordergrund der Learning Analytics. Und für die Optimierung des Lernens braucht man eben viele Daten. Sie können sich das vorstellen wie in der Schule: Die Lehrperson im Klassenzimmer, die sammelt viele Daten über den Tag hinweg, hat aber auch schon viele Daten im Klassenbuch und in den Notenlisten stehen. All diese Informationen werden zusammengebracht, um die Lernaufgaben für Schüler A, B und C aufzubereiten und den Lernprozess optimal zu unterstützen. Und genau das wollen wir auch mit Learning Analytics tun. Aber die Lehrperson im Klassenzimmer weiß auch, wann sie sich zurückziehen soll und eben nicht stärker unterstützen soll, sondern den Lernprozess für sich erst mal weiterentwickeln lassen kann und das soll Learning Analytics genauso tun. Das heißt, wir wollen über Künstliche Intelligenz, also Algorithmen, wiederum erkennen, wann wir diese Unterstützungsmaßnahmen im Lernprozess auch wieder zurückziehen und es dem Lernenden selbst überlassen, autonom zu lernen beziehungsweise selbst steuern zu können: „Jetzt brauch ich wieder Hilfe. Gib mir bitte wieder was.“ Das sind genau die Knackpunkte, die Learning Analytics aktuell im Forschungskontext zu bewältigen versucht. Das heißt, es geht darum, die Lernprozesse personalisiert zu optimieren, indem den Lernenden genau das und dann adaptiert wird, wann er es braucht und anfordert.

eLearning Journal: Können Sie uns neben der Grundlagenforschung auch bereits Beispiele aus der Handlungs- und Verwendungsforschung nennen, wo Erkenntnisse im Bildungsprozess zurzeit konkret praktisch genutzt werden können?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Es gibt natürlich viele Anwendungsfelder. Hauptsächlich aus dem Hochschulwesen. Dort haben wir Anwendungsfelder zur Unterstützung von einzelnen Kursen bis hin zur Weiterentwicklung von Organisationen. Das hat eigentlich angefangen im Rahmen der Unterstützung oder Erkennung von Risikostudierenden. Das heißt, Studierende, die in Gefahr sind, das Studium abzubrechen. Das ist der Ursprung gewesen, der Learning Analytics aufs Tableau brachte. Man hat Indikatoren identifiziert, die ganz klar sagen, hier ist ein Studierender jetzt in Gefahr, das Studium abzubrechen. Wenn ich mich also beispielsweise über mehrere Wochen hinweg nicht ins LMS einlogge und keine Leistungen abgebe, sind das klassische Indikatoren dieser Risikogruppe. Das war zunächst analytisch etwas sehr Rudimentäres, wir sprechen hier schließlich die 2010er-Jahre an. Das hat sich mittlerweile weiterentwickelt im Rahmen von adaptiver Unterstützung, wo tatsächlich selbstreguliertes Lernen und motivationale Konstrukte im Vordergrund stehen, das heißt, in Form von „Ich fühle mich heute nicht gut, wie könnte meine Lernmotivation nun gesteigert werden, damit ich mich dann eben auch wieder stärker engagieren kann im Lernprozess?“. In den Unternehmen sind Learning Analytics noch nicht angekommen, könnten aber prinzipiell wirksam werden.

eLearning Journal: Die Akteure in den Unternehmen, die sich mit der Digitalisierung der betrieblichen Bildung de facto beschäftigen, äußern oft die Befürchtung, dass Learning Analytics nun wirklich zur „dunklen Seite der Macht“ gehören, mit der man sich gar nicht erst beschäftigen sollte, da es ohnehin spätestens der Betriebsrat aufgrund von Datenschutzbedenken stoppt. Deshalb die Frage, ob Learning Analytics auch anonymisiert vorstellbar sind?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Datenschutz ist ein wichtiges Thema. Gesetzliche Vorgabe ist natürlich die EU-DSGVO, die wir seit 2018 ja letztendlich befolgen und die alle auch kennen. Da kann man im Rahmen von Learning Analytics auch ganz deutlich sagen, dass wir da diese „Opt-in-Option“ haben, das heißt, ich als Lernender im Unternehmen würde erst mal zustimmen müssen, damit meine Daten überhaupt verwendet werden dürfen für Learning Analytics. Wenn ich nicht zustimme, werden diese Daten auch nicht verwendet. Jetzt haben wir aber nicht nur den Datenschutz als Problem, sondern auch das ethische Grundverständnis. Das heißt, wenn ich nicht zustimme, dann kann ich auch diese Unterstützung nicht erhalten. Das heißt, ich würde wahrscheinlich auch irgendwo hinterherhinken bei der Kompetenzentwicklung, weil die anderen, die zustimmen, natürlich auch diese Unterstützungsmöglichkeiten angeboten bekommen. Dadurch entsteht natürlich ein ethisches Dilemma: Soll ich zustimmen? Aber ich will meine Daten gar nicht preisgeben. Dazu haben wir im Forschungskontext auch mehrere Studien gemacht, den sogenannten „Privacy Calculus“. Ich mache also eine Kalkulation – positiv und negativ motivierte Argumente, die mich dann dazu bewegen, meine Daten preiszugeben oder auch nicht. Das gilt nicht nur für Learning Analytics. Sondern auch in jedem anderen Bereich. Also, wenn Sie Social Media verwenden: Will ich diesen Messenger benutzen oder nicht? Wenn der zu viele Daten von mir abgreift, dann will ich ihn vielleicht eher nicht. Aber meine anderen Freunde haben alle den Messenger. Also benutze ich ihn doch. Obwohl ich eigentlich meine Daten nicht dem Unternehmen, dass meine Daten weiterverkauft, preisgeben möchte. Genauso ist es mit Learning Analytics auch. Das heißt also: Sind die Vorteile, die ich da herausziehen kann, größer für mich als die Einschränkungen, die ich vielleicht habe, wenn ich meine Daten preisgebe? Und aus diesem Calculus heraus wird dann letztendlich diese Entscheidung getroffen. Das heißt, die Unternehmen und auch Betriebsräte sollten versuchen, heuristisch transparent zu machen, was mit den Daten passiert, wenn Learning Analytics eingesetzt wird. Wer hat Zugriff auf die Daten? Welche Daten werden überhaupt gespeichert? Wie lange und zu welchem Zweck werden sie gespeichert? Und wenn diese Transparenz vorherrscht, dann wird natürlich dieser „Privacy Calculus“ ganz anders ausfallen, als wenn das alles irgendwo verschwiegen ist. Wenn ich also nicht weiß, wo die Daten liegen und wer darauf zugreifen kann. Und ich auch nicht die Speicherdauer kenne oder weiß, ob die Daten an andere verkauft werden. Transparenz kann beim Datenschutz demnach sehr stark punkten. Denn Learning Analytics sind dann kein nebulöses System mehr, das vielleicht in der Lage dazu ist, beim lebenslangen Lernen zu helfen, sondern es ist auch klar, in welchem Rahmen sie eingesetzt werden.

eLearning Journal: Bevor wir gerade noch einmal zum Spannungsfeld Learning Analytics kommen in der betrieblichen Bildung, würden wir gerne noch mal einen kurzen internationalen Ausflug machen. Wo stehen wir hier in Deutschland gegenüber den internationalen Entwicklungen bei Learning Analytics? Wenn wir uns KI ansehen, dann sehen wir, wir haben eine Nationale Weiterbildungsstrategie und die Politik bereitet sich drauf vor, dass wir in der dritten, vierten oder fünften internationalen Welle groß aufholen werden beziehungsweise sollen. Wie sieht es bei Learning Analytics aus: Wo sind die großen Kompetenzcluster, sind die auch im pazifisch-asiatischen und amerikanischen Raum verortet?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Wir haben in den letzten 2 Jahren ein Forschungsprojekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert bekommen, das genau das herausfinden sollte. Wir sollten Handlungsempfehlungen ableiten für den Einsatz von Learning Analytics an deutschen Hochschulen. Und haben auf der Grundlage dieses Forschungsprojektes ein internationales Review gemacht über 6000 Publikationen zum Bereich Learning Analytics zwischen 2013 und heute. Die internationale Forschungslandschaft ist tatsächlich sehr stark konzentriert auf die USA, Großbritannien und Australien. Das sind die Ursprünge von Learning Analytics. Und da muss man sagen: Wiederum sehr stark konzentriert im Hochschulbereich, weil eben dort viele Daten schon vorhanden sind, weil man die LMS schon seit 20 Jahren hat, weil man Student Relationship Management Systeme hat. Und letztendlich die ganzen Alumnidaten sammelt. Das heißt, man hat eine unglaublich große Datengrundlage, die verwendet werden kann für Learning Analytics und die hilfreich sind. Im Unternehmenskontext – aber auch Schulkontext – sieht es ganz anders aus: Dort haben wir viel weniger Studien, die zu diesem Bereich umgesetzt werden, weil die Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Unternehmenskontext zu Learning Analytics eben noch sehr stark hinterherhinkt und dadurch haben wir natürlich auch weniger Evidenz erzeugt aus empirischer Sicht, dass wir mit Learning Analytics auch in Unternehmen im formellem, aber auch informellem Kontext Wirkung erzeugen könnten. Das heißt also, da braucht es noch viel Arbeit international. Wenn man das Ganze auf Deutschland konzentriert, haben wir im Hochschulbereich durchaus gerade in den letzten beiden Jahren gesehen, dass es dort sehr stark auch im Vordergrund steht. Wir haben gerade jetzt auch eine Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die sich in diesen Bereich orientiert zu Künstlicher Intelligenz. Es gibt ja auch den „KI-Campus“, der Weiterbildungsangebote in nächster Zeit zur Verfügung stellen wird im Bereich KI aus ganz unterschiedlichen Anwendungsfeldern. Das sind alles positive Entwicklungen, wo man sieht, dass Learning Analytics in Deutschland ankommt, aber es kommt eben erst an. Das heißt, man fängt jetzt an, damit umzugehen und hat da genau die gleichen Hürden, die man auch international kennt. Das heißt, dass unterschiedliche Fachdisziplinen zusammenarbeiten müssen. Wir brauchen Leute aus Pädagogik, Psychologie, Data Science und Informatik, um all das zusammenzubringen. Wir brauchen aber auch Leute, die aus der Ethikforschung kommen und Juristen, die da mithelfen. Und wenn wir das alles bündeln im Unternehmen, dann werden wir natürlich gleich an Grenzen stoßen, weil Unternehmen all das natürlich nicht aufbringen können. Das heißt, dazu braucht es, und das ist auch eine unserer Handlungsempfehlungen, nationale Boards. Das heißt Learning Analytics Communities, die dann auch mit Unternehmensvertretern diskutieren und dort vielleicht auch Blaupausen entwickeln können für bestimmte Unternehmensgrößen und Anwendungsfelder, die dann wiederum so Learning Analytics besser einführen können in den Unternehmen, die sich dafür interessieren. Ganz klar: Das ist eine freiwillige Aktion. Aber so, wie wir es aus diesen 6000 Studien kennen, die wir gesichtet haben, zeigen Learning Analytics tatsächlich auch Wirkung. Sie unterstützen demnach tatsächlich Lernprozesse, optimieren auch die Curricula der Anbieter und können eben dadurch letztendlich effektiver eine höhere Qualität des Lernens anbieten.

eLearning Journal: Gerade beim Thema KI scheint es aber eher so zu sein, dass das BMBF bei der betrieblichen Bildung noch einen toten Winkel hat: Die KI-Forschung und auch der KI-Campus zielt ja mehr auf die Hochschullehre ab. Wenn wir uns nun die Strukturen anschauen und vergleichen – gerade in Europa – dann sehen wir, dass es in skandinavischen Ländern nationale Strategien gibt. Hier haben wir zwar seit August letzten Jahres eine Nationale Weiterbildungsstrategie, aber letztendlich handelt es sich nur um ein Positionspapier von zwei Ministerien gemeinsam mit Vertretern der Sozialverbände. Und das beruht sicher auch auf der deutschen Sondersituation. Aber wenn wir in die betriebliche Bildung reinschauen, dann haben wir beim BMBF das zugeordnete Institut, das BIBB, das Bundesinstitut für Berufsbildung. Und das Institut hat ungefähr 750 Mitarbeiter und die haben vor einigen Jahren ihre Weiterbildungsabteilung ganz aufgelöst, weil sie händeringend sehr viel zu tun haben mit unserem dualen Ausbildungssystem, nämlich mit der Anpassung durch die Globalisierung und Digitalisierung der ganzen Berufe und Ausbildungszusammenhänge. Und da sind sicher auch die meisten Forschungs- und Entwicklungsprojekte dann verortet. Aber wenn wir in die Betriebe reinschauen, Herr Professor Ifenthaler, dann können wir ja erkennen, dass die Unternehmen, durch die Personalabteilungen getrieben, immer mehr Systematisierungsversuche unternehmen, Kompetenzbedarfe digital erkennen zu können und digital unterstützt Kompetenzentwicklungen zu stärken. In dem Zusammenhang ist der Bedarf, Learning Analytics einzusetzen, mit Sicherheit immens hoch. Auf der anderen Seite haben wir in der Betrachtung der betrieblichen Bildung immer noch ein sehr klassisches Bild von Weiterbildung. In unserem Land sind für zertifizierte Weiterbildungen die IHKs zuständig, aber in den Betrieben ist das Bewusstsein zuletzt immer größer geworden – insbesondere durch die Digitalisierung -, dass der überwiegende Teil der Kompetenzentwicklung eigentlich in informellen Lernprozessen stattfindet. Kann uns da Learning Analytics auch weiterhelfen?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Ja, wenn in den Unternehmen diese Form der Lernkultur auch im Vordergrund steht und lebenslanges Lernen und Kompetenzentwicklung im Betrieb tatsächlich angekommen ist. Es ist ganz natürlich, dass Kompetenzlücken entstehen, wenn neue Projekte im Unternehmen gestartet werden. Aber die kann man eben schließen durch Lernprozesse und Weiterbildungen. Diese kann man aber eben nicht immer durch irgendwelche klassischen Schulungen schließen, sondern man braucht vielleicht auch einen Prozess, indem man einfach gemeinsam lernt und gemeinsam versucht Probleme zu lösen und dadurch dann eben auch wieder die Wissensbasis des Unternehmens erweitert. Und so auch wieder als Multiplikator für die Branche wirken kann. Das heißt, das sind ganz neue Lernszenarien, die sich entwickeln, die aber erst einmal etabliert werden müssen. Und Etablieren heißt, Lernkultur zu schaffen im Unternehmen. Das ist genau die Richtung, in die der Veränderungsprozess der „Lernenden Organisation“ auch gehen sollte. Sprich also, wir versuchen diesen Change Prozess tatsächlich auch umzusetzen, die Lernkultur als Mindset in den Unternehmen zu etablieren und dabei natürlich als eine Form der Unterstützung Learning Analytics einzusetzen und zu sagen: Wir haben Möglichkeiten, Daten im Sinne der Kompetenzentwicklung zu verwenden. Ich weiß ja nicht, was mein Mitarbeiter X vielleicht auch in seiner Freizeit macht und der kennt sich vielleicht unglaublich gut mit Java-Programmierung aus und jetzt brauchen wir jemanden im Projekt, der Java programmieren kann, aber die Programmierer sind teuer oder aktuell gar nicht auf dem Markt verfügbar. Wenn ich jetzt wüsste, dass der Kollege da in seiner Freizeit Applikationen programmiert, dann könnte ich ja genau diese Kompetenz aufgreifen. Und das wäre dann eben auch wieder ein Datum, was in den Learning Analytics als Expertise gilt – was aber nicht zur Job Description gehört, sondern darüber hinaus geht. Und in dieser Weise kann ich mir eben neue Wege des Lernens oder der Multiplikation innerhalb der informellen Lernprozesse auch vorstellen. Das ist nur ein Beispiel. Oder ich verknüpfe unterschiedliche Personen miteinander oder ich suche eben in einem Chatbot bestimmte Begriffe und bekomme dann eben neue Materialien/Informationen, vielleicht über Open Educational Resources, die ich verwenden kann und kann diese mit meinen Kollegen teilen. Genau das sind Systeme, die im Unternehmen an sich informelle Lernprozesse unterstützen können, die ganz klar Learning Analytics als Überschrift haben – die sicherlich ganz anders funktionieren als in der Universität, wo wir sehr stark formalisierte Lernprozesse haben. Aber genau dahin geht ja auch unser Forschungsbereich, den wir in Mannheim mit meiner Forschergruppe durchführen, dass wir stärker in diese Richtung gehen: Wie können wir mit Algorithmen diese informellen Lernprozesse unterstützen und entsprechend dadurch diese Lernkultur, diese Change Management Prozesse in den Unternehmen fördern?

eLearning Journal: Den Begriff Künstliche Intelligenz haben wir jetzt wiederholt mit dem Thema Learning Analytics in Zusammenhang gebracht und da gehört er auch hin. Welchen Eindruck haben Sie allgemein von dem jetzigen Status Künstliche Intelligenz in der betrieblichen Bildung? Sie hatten Lernbots bereits angesprochen. Und es gibt sehr große Sehnsüchte nach Vereinfachung durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Deshalb: Welchen Reifegrad und Potenzial hat KI?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Wir sind sicherlich weit weg von einer Marktreife und Marktfähigkeit, wie zum Beispiel bei einem Programm zur Tabellenkalkulation. Also, da sind wir noch lange nicht. Wir haben Ansätze im Forschungs- und Entwicklungsbereich, die aber nicht off-the-shelf verwendet werden können. Da werden vielleicht auch Heilsversprechungen gemacht. Wir haben aber noch gar keine Forschungserkenntnisse dazu, was für längerfristige Effekte entstehen und auch, was die Usability von solchen Systemen anbelangt. Dazu kommen wieder, das hatten wir auch schon diskutiert, die Datenschutzaspekte mit hinein, die vielleicht auch weitere Entwicklungen oder auch Change Prozesse in Unternehmen behindern. Das heißt also, dass wir viele Baustellen haben, die gleichzeitig zu bearbeiten sind, die zugleich aber diesen Veränderungsprozess entschieden verlangsamen. Das heißt, viele Unternehmen wollen da rein und wollen auch alle Möglichkeiten ausnutzen, werden aber dann wieder über unterschiedliche andere Prozesse ausgebremst. Nichtsdestotrotz gibt es Insellösungen, die funktionieren. Und darauf sollte man aufbauen. So haben sich mittlerweile auch alle anderen Forschungsbereiche und die neuesten Entwicklungen in der Technologie durchgesetzt. Das heißt, es gibt bestimmte Bereiche, die erstmal im Kleinen entwickelt werden und dann immer größer und mächtiger werden, womit natürlich auch die Effizienz gesteigert werden kann. Wenn man mit dem Thema Learning Analytics, KI und Algorithmen agieren möchte, dann braucht man auch einfach einen gewissen Mut und Risikobereitschaft, was viele vielleicht auch gar nicht haben, um da einzusteigen und dadurch über diese Risk Investments dann vielleicht auch die Benefits herauszuziehen und einen größeren Return zu erreichen, der, wenn man sich gleich heute darum bemüht, irgendwann mal erscheinen könnte.

eLearning Journal: Die Universität Mannheim ist ja eine sehr unternehmensnahe Universität: SAP und BASF sitzen dort, auch andere Unternehmen mit denen Sie zusammenarbeiten. Wenn Sie sich jetzt ein Forschungsfeld wünschen könnten für die betriebliche Bildung und es wären jetzt Forschungsmittel unlimited möglich, was wäre das wichtigste Feld, was Sie zu Learning Analytics gerne erforschen würden für die praktische Anwendung in den Unternehmen?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Ganz klar: Die Unterstützung der individuellen Weiterentwicklung jedes einzelnen Mitarbeiters – nicht nur auf die Kompetenzentwicklung bezogen, was man also am Arbeitsplatz benötigt, sondern auch im Sinne des allgemeinen Wohlbefindens. Auch das psychische Wohlbefinden am Arbeitsplatz ist unglaublich wichtig: Ich möchte mich wohlfühlen und entsprechend flexibel in meinem Arbeitssetting bewegen. Dadurch kann Learning Analytics auch sehr stark helfend sein, wenn ich mich jetzt unsicher fühle, um dort letztendlich Unterstützung zu erhalten. Das heißt also, wie könnte ich meinen Tag einrichten und weiterentwickeln, damit ich bestmöglich herauskomme und vielleicht eben auch noch ein bisschen an meiner Kompetenz weiterarbeiten kann? Das wäre sicherlich ein Forschungsbereich, der eben wieder auch das heuristische Bild, der Person an sich, in den Vordergrund rückt. Wir haben unterschiedliche Dispositionen, jeder ist für sich selbst eine Person und ein Individuum und das muss eben auch so betrachtet werden. Wir können nicht alle hunderttausend Mitarbeiter in den Unternehmen über einen Kamm scheren, das geht nicht. Das heißt also wirklich, das Individuum und das individuelle Lernen sowie Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, um das optimale Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu erreichen. Das wäre sicherlich eine große Herausforderung für ein Forschungsprojekt. Aber Sie haben mir unendlich viel Geld gegeben, somit sollte das auch lösbar sein. (lacht)

eLearning Journal: Vielen Dank, Herr Professor Ifenthaler für unser Gespräch.

Redaktion: Jacob Sablotny

Beitragsbild: AdobeStock – shock


Profil

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler

ist Professor am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik, Learning, Design & Technology der Fakultät für BWL an der Universität Mannheim (UMA). Zu seinen Schwerpunktthemen zählen die Möglichkeiten und Herausforderungen digitaler Medien und Technologien im Bildungskontext. Ebenso widmet er sich den Themen Data Analytics zur Unterstützung von Lern- und Lehrprozessen und dem Change Management in Bildungsorganisationen. Ifenthaler fungiert zudem als Herausgeber der Quartalsperiodika Technology, Knowledge and Learning und ebenso als Autor diverser Fachbuch-Serien (siehe „Literatur“).


Literatur

Dirk Ifenthaler / David Gibson:

Advances in Analytics for Learning and Teaching

Die Buchserie beleuchtet die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Learning Analystics und ebenso der Analyse des modernen Lehrens. Dem Leser werden Einblicke in die Paradigmen, Frameworks, Methoden und Prozesse des Change Management gegeben, um organisatorische Transformationen anhand von Educational Data Mining und Learning Analytics zu erleichtern. Ebenso werden in der Buchreihe Themen wie berufliche und gesundheitliche Erziehung im Allgemeinen, und Instruktionsdesign, Technologieadaption in Lern- und Lehrprozesse im Speziellen behandelt.

 

 

ISSN: 2662-2122
Verlag: Springer
Sprache: Englisch


Kontakt

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler
Universität Mannheim

Tel.: +49 (0) 621 / 18 12 27 0

ifenthaler@uni-mannheim.de
www.uni-mannheim.de