Zusammenfassung
Die Trends der Industrie 4.0 und der Digitalisierung werden auch das Lernen verändern, obwohl man geneigt ist zu sagen, dass mit den E- und Distance Learning Methoden ein Teil der Veränderung bereits vorweg genommen sein dürfte. Die heute noch typische Lernsituation im betrieblichen Umfeld zeichnet sich durch „Zeit, weg vom Arbeitsplatz“ aus. Das Lernen wird sich zukünftig mehr an den Arbeitsplatz verlagern: Es wird dadurch aber unspezifischer und informeller. Das für eine Tätigkeit notwendige Wissen und eine benötigte Information wird situativ und bedarfsgerecht bereitgestellt. Ein zunehmender Teil dieses Wissens wird User-generated Content sein, den Mitarbeiter selbst erstellen und bereitstellen. Dabei bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Bedürfnissen von „white und blue collar“ Arbeitsplätzen. Was das für die Lernwelt und das heute fast schon synonym eingesetzte Learning Management System bedeuten kann, wird anhand von 9 Thesen beschrieben. Am Ende zeigt der Autor auf, dass die Zeit der klassischen LMS sich dem Ende zuneigt und integrierte Funktionen das umfassende separate Learning Management System ablösen dürften.
Ein Szenario
Lassen Sie uns mit einem Szenario beginnen: Wer benötigt zukünftig was, wann und wie? Welches Wissen, welche Kompetenzen und welche Informationen werden gebraucht? Wie läuft Lernen in der Zukunft ab? Wie werden Informationen in einigen Jahren bereitgestellt bzw. beschafft?
In diesem Szenario möchte ich weder die Zukunft definieren oder erklären noch die Glaskugel bemühen. Vielmehr geht es mir darum, ein Bild mittels einiger Thesen zu entwickeln, das so, oder so ähnlich, in 3, vielleicht 4 oder auch 5 Jahren eintreten kann. Aber vielleicht sind wir schon vorher soweit, oder auch erst etwas später?
Die Thesen geben ausschließlich mein Verständnis und meine Perspektiven des zukünftigen Lernens und der Informationsbeschaffung wieder und orientieren sich an dem, was ich aktuell kenne und in den vergangenen Jahren kennengelernt, erlebt und erfahren habe. Dabei habe ich nicht den Anspruch, Neues zu definieren. Vielmehr möchte ich bekannte Ansätze zu einem Bild integrieren bzw. vervollständigen:
- Der Bedarf hochwertiger, kurzfristiger, situativ verfügbarer Informationen am Arbeitsplatz wird steigen. „Man kann nicht mehr alles im Kopf haben!“
- Der Bedarf wird sich vom „Wissen auf Vorrat“ in Richtung eines „konkreten Wissen bei Bedarf“ verlagern.
- Ein nicht kleiner Teil des formalisierten Lernens wird „weg vom Arbeitsplatz“ stattfinden.
- Informell erworbenes Wissen wird formalisiert.
- Die Demokratisierung von Wissen in elektronischer Form wird weiterhin zunehmen. Jeder kann sein Wissen und seine Erfahrung teilen.
- Lernen wird aus der noch heute oft geprägten Individualsituation in eine sozialisierte Form übergeben: teilen, erklären, diskutieren, verteidigen, …
- Die erlebte Beschleunigung in der Wissensvermehrung der vergangenen Jahre wird auch weiterhin erhalten bleiben.
- Lerninhalte werden dynamischer sein müssen, um dem weiter zunehmenden Erkenntnisgewinn (Wissensvermehrung) in Inhalten, Bereitstellung und Erwartungen des Lerners gerecht zu werden.
- Die Struktur von Lernangeboten wird weniger linear sein.
Im Folgenden werden die einzelnen Thesen vertieft beschrieben. Zum Abschluß einer jeden These möchte ich aufzeigen, wie aus meiner Sicht Lern- und Informationssysteme am Arbeitsplatz beschaffen sein sollten, um den jeweiligen Aspekt zu unterstützen. Das Gesamtbild wird am Ende des Artikels von mir zusammengeführt, so dass das angedeutete Bild im Ganzen skizziert ist.
These 1:
Der Bedarf hochwertiger, kurzfristiger, situativ verfügbarer Informationen am Arbeitsplatz wird steigen. „Man kann nicht mehr alles im Kopf haben!“
These 2:
Der Bedarf wird sich vom „Wissen auf Vorrat“ in Richtung eines „konkreten Wissen bei Bedarf“ verlagern.
Eine alltägliche Gegebenheit: Am Arbeitsplatz wird situatives, spezifisches Wissen benötigt, um eine Arbeit ausführen zu können. Die Thesen 1 und 2 berücksichtigen diesen Bedarf, weshalb ich sie zusammen betrachte – wo und wann wird Wissen benötigt? Die auch sicherlich weiterhin zunehmende Produkt- und Variantenvielfalt machen es schwierig, das notwendige (produktspezifische) Wissen jederzeit parat zu haben. Dabei ist es egal, um welche Phase im Produktentstehungsprozess es sich handelt. Das kann die Herstellung oder die Wartung bzw. Reparatur des Produkts betreffen, wie auch die Erbringung einer Dienstleistung.
Ein Beispiel, das ich in diesem Zusammenhang sehr anschaulich finde, ist die Schraubverbindung, die mit einem definierten Drehmoment oder Drehwinkel kon-trolliert angezogen werden soll. Die notwendigen Werte hatte der Mechaniker bisher meist im Kopf parat, weil er sie „gelernt“ hat. Heute ist es aufgrund der genannten Vielfalt oft notwendig, diese Werte bei Bedarf nachzuschlagen bzw. bereitzustellen. Und damit tritt ein Aspekt auf die Bühne, der in meinen Augen den Arbeitsplatz auszeichnet: informieren oder lernen? Bekommt die betreffende Person eine Information bereitgestellt oder lernt sie am Arbeitsplatz?
Meine Wahrnehmung ist, dass es sich in der Regel um Informationen handelt, die situativ gefunden und angewendet werden sollen, wie z.B. der spezifische korrekte Anzugswert für die Schraubverbindung. Diese Werte können manuell nachgeschlagen, oder aber, ich habe vor längerer Zeit solche Anwendungen im Rahmen der Industrie 4.0 gesehen, automatisiert bereitgestellt werden. Diese Informationen werden abgearbeitet und sind damit in der Regel flüchtig. Bei einer entsprechenden Häufigkeit der verrichteten Tätigkeit merken sich die betreffenden Personen vielleicht die betreffenden Werte und haben sie evtl. auch später parat. Von einem „Lernen“ gehe ich dabei nicht aus. Das hat oft bereits an anderer Stelle stattgefunden, z.B. im Rahmen der Ausbildung bzw. der Anlernphase. Die entsprechende Kompetenz wird also an den Arbeitsplatz mitgebracht und vor Ort durch situative Informationen ergänzt, die zur Arbeitsausführung notwendig sind. Bei unserem Drehmoment-Beispiel ist es die Kompetenz, relevante Schraubverbindungen zu erkennen und die Fertigkeit, die Schraube mit dem richtigen Anzugswert anzuziehen.
Exkurs
Bevor wir an dieser Stelle und auch im weiteren Verlauf auf das LMS (Learning Management System) schauen, möchte ich eine grundlegende Sache klären: Was verstehe ich darunter?
Für mich ist ein LMS ein (IT-) System, das das Lernen managed. Dabei stelle ich den Lerner in den Vordergrund, wohlwissend, dass andere Personengruppen das LMS häufig intensiver nutzen als der Lerner selbst, z.B. Administratoren, Trainer, …, aber das Essen muss dem Gast schmecken, nicht dem Koch!
Das LMS ist nicht für den Lernprozess des Lerners verantwortlich, obwohl es ihn unterstützt. Vielmehr ist es die (oft betriebliche) Instanz, in dem Lernangebote unterschiedlicher Formate (Präsenzangebote, E-Learning, Webinare, …) organisiert und das Lernen unterstützt werden: z.B. Katalog, Buchung/Anmeldung, Durchführung, Bereitstellung, Lernhistorie, Kurs-/Angebotsverwaltung, Auswertungen/Reporting, Bildungshistorien, Abrechnung, User- und Rechte-/ Rollenverwaltung, Abfragen, Inhaltserstellung, Kompetenzmanagement… Nicht jede der genannten Funktion ist für jeden Kunden sinnvoll und notwendig – und auch nicht jede Funktion wird von jedem LMS erfüllt oder angeboten. Das macht ein LMS nicht besser oder schlechter. Vielmehr geht es darum, die für sich passende Lösung zu finden!
Für eine Vertiefung des LMS-Begriffs und -Verständnisses empfehle ich dem geneigten Leser die Analyse von Annette Bouzo: Was ist eigentlich ein Learning Management System, erschienen im eLearning Journal Praxisratgeber 2017/2018: eLearning in Unternehmen nachhaltig einsetzen.
Was bedeutet das für ein LMS am Arbeitsplatz?
Eine systemtechnische Trennung zwischen LMS und arbeitsbezogenen Informationen am Arbeitsplatz halte ich aus Anwendersicht in Zukunft nicht mehr für akzeptabel. Vielmehr muss es doch darum gehen, „quasi barrierelos“ notwendige Informationen zu erhalten; entweder automatisiert/kontextbezogen oder nach Bedarf/auf Anforderung:
- ohne separate LogIns
- an einer Stelle
- gerne aus einem Guss bzw. in einem Look & Feel
- in verdaulichen, der jeweiligen Situation angepassten „Häppchen“
Ein möglicher Lösungsansatz könnte nach meinem Verständnis sein, dass Informationen in einer übergeordneten Maske aus verschiedenen Quellen (LMS, ERP, …) zusammengeführt werden. Das LMS wird also von der betreffenden Person gar nicht mehr als separates System wahrgenommen. Vielmehr ist das LMS Lieferant einer „bestimmten“ Informationsart. Ausgehend von den heute in Unternehmen typischerweise eingesetzten Systemen würde nach meiner Meinung das ERP im Lead sein, dem sich ein LMS dann „unterordnen“ müsste. Das würde so natürlich nur die „Contentbereitstellung“ betreffen. Typische weitere Funktionen eines LMS, wie z.B. die Veranstaltungs- oder Kursadministration, bleiben erhalten und können im LMS genutzt werden.
Letztlich, und jetzt wage ich einen ersten Blick über den Tellerrand, kann ich mir gut vorstellen, dass die heutigen üblichen LMS-Funktionen zukünftig als skalierbare und integrierbare Applikationen (Apps) bereitgestellt werden und damit über den heutigen LMS-App-Gedanken hinausgehen. Denn heutige LMS-Apps zielen ausschließlich auf die mobile Nutzung von LMS und Lerninhalten auf einem mobilen Device, egal, ob online oder teils on- und offline.
Das hat natürlich auch Konsequenzen auf die Inhaltsstruktur, die modular sein muss. Aber das ist ein anderes spannendes Thema!
Exkurs
Ein kurzer Exkurs zum Thema grundlegender Kompetenzen und Fertigkeiten:
Ich beobachte in Unternehmen seit mehreren Jahren eine Tendenz, dass das Schulungsangebot ausschließlich auf die unternehmenseigenen Produkte und Prozesse ausgerichtet wird. Als Gründe werden dabei immer wieder Kosteneffizienzen angeführt. Es wird argumentiert, dass Mitarbeiter als Auswahlkriterium die Grundlagen bereits mitbringen und es daher keinen zusätzlichen Bedarf an Fortbildungen gibt.
Diese Entwicklung bewerte ich als kritisch, da sich die Grundlagen auch weiterentwickeln. Personen, deren Abschlüsse bereits etwas länger her sind, haben somit kaum Chancen, ihr Wissen und ihre Kompetenzen im Sinne einer Fortbildung aktuell zu halten. Berufsschulen sind nicht mehr zugänglich, (Berufs-) Verbände haben sich dieser Problematik (noch) nicht angenommen und kostenpflichtige Schulungsangebote sind oft nur einer ausgewählten Teilnehmerschaft zugänglich, solange nicht persönliche Weiterbildungsambitionen vorhanden sind, was ja nicht für jeden Menschen zwingend zutrifft.
These 3:
Ein nicht kleiner Teil des formalisierten Lernens wird „weg vom Arbeitsplatz“ stattfinden.
Unter formalem Lernen werden Angebote in der (beruflichen) Fort-, Aus-und Weiterbildung verstanden, die zu verbindlichen Abschlüssen führen und meist in vorgegebenen Strukturen zu festen Zeiten an festen Orten stattfinden. Man denkt dabei zunächst an Präsenzmaßnahmen oder sogenannte „synchrone Schulungsmethoden“, wie auch Webinare bzw. virtuelle Klassenzimmer.
Es geht jedoch weiter: z.B. Web Based Trainings oder auch Blended Learning-Angebote zähle ich genauso zu diesen Angeboten. Sie sind in einer (geplanten) linearen Abfolge zu bearbeiten, die, je länger sie sich in der Bearbeitungsdauer darstellen, für den Lerner „formalisierter und verbindlicher“ im Ablauf sind.
Durch das Angebot ortsunabhängiger (asynchroner) Lerninhalte wird Wissen zukünftig mehr und mehr außerhalb der Arbeitszeit erarbeitet und gelernt werden. Dieses Phänomen haben wir schon vor mehr als 10 Jahren verstanden, als wir Automobilverkäufer in verschiedenen Ländern zu ihren bevorzugten Lernorten befragt haben: Damals haben fast 90% der Kolleginnen und Kollegen diesen mit „zuhause“ angegeben. Meine Erfahrungen bestätigen dieses Verhalten auch in anderen Branchen!
Natürlich stellt auch diese These, wie schon die Thesen 1 und 2, das Wo und Wann in den Fokus der Betrachtungen, aber eben nicht am Arbeitsplatz! Aus didaktischer Perspektive ist dieses erlebte Verhalten eine „gute Nachricht“, weicht die Arbeitsplatzsituation doch sehr oft von dem ab, was wir unter einem „idealen Lernort“ verstehen und uns wünschen: ruhig, ungestört, inspirierend.
Daraus ergeben sich Anforderungen an das LMS:
- Zugänglichkeit des LMS auch außerhalb der Unternehmensarchitektur
- Unterstützung mobiler Devices
- Aber nicht alle Inhalte sollen aus Gründen der Vertraulichkeit außerhalb der Unternehmensgrenzen sichtbar sein.
- Lernstandsspeicherung
Im Grunde werden die genannten Anforderungen funktional schon heute von LMS erfüllt. Die Einschränkungen liegen meist in der Umsetzung durch die Unternehmen. Es gibt aber auch einige Punkte zu beachten, die organisatorischer Art sind:
- Es sind die notwendigen Voraussetzungen für die Anerkennung von Lernzeit (auch zuhause) zu schaffen. Damit meine ich konkret die Förderung einer positiven Lern- und Vertrauenskultur sowie Betriebsvereinbarungen, die den Umgang mit Lernzeiten regeln.
- Einige formale Angebote erfordern, dass sichergestellt ist, dass die notwendigen Aktivitäten und Nachweise durch den Lerner persönlich erbracht werden. Neben einem organisatorischen Ansatz, nämlich der Organisation entsprechender Curricula bzw. Blended Learning-Konzepte, könnte diese Anforderung aber auch über bekannte Funktionen aus der „Smartphone-Welt“, wie z.B. die Gesichtserkennung realisiert werden, die natürlich entsprechende Datenschutzbestimmungen berücksichtigen müsste.
Ich sehe vor allem in den Unternehmen den Bedarf, dieses Lernerverhalten konsequenter in den Planungen zu berücksichtigen und zu unterstützen, z.B. im Rahmen der Schulungs- bzw. Distance Learning-Strategie.
Exkurs
An dieser Stelle, quasi zwischen Arbeitsplatz und „weg vom Arbeitsplatz“, möchte ich einen weiteren Exkurs anbieten: Wie soll das Lernen am Arbeitsplatz eigentlich ablaufen? Wieviel Lernen findet effektiv am Arbeitsplatz statt – oder muss das „Lernen am Arbeitsplatz“ nur als Konzept verstanden werden, das verschiedenen Strukturen folgt.
Beginne ich zunächst mit der einfacheren Variante, dem white-collar-Bereich. Ausgehend davon, dass jeder dieser Mitarbeiter einen eigenen Arbeitsplatz mit PC und/oder ein geschäftliches mobile Device besitzt, eine „wohlwollende“ Lernkultur besteht (darunter verstehe ich, dass er nicht verhöhnt wird, falls er „sich einmal nicht unmittelbar an der Steigerung des Umsatzes oder des Bruttosozialprodukts“ beteiligt), er sich zeitlich begrenzt „ausklinken“ kann und Ruhe hat, sind hier wahrscheinlich ideale Voraussetzungen gegeben, am Arbeitsplatz formal zu lernen. Hat der Lerner auch noch eine persönliche Perspektive (aufgezeigt bekommen) und klare Ziele, die sich an seiner aktuellen bzw. zukünftigen Tätigkeit orientieren und deren Erreichung durch seine Kollegen bei Bedarf unterstützt und einen Lehrer bzw. Coach begleitet werden, haben wir die idealtypische Form des „Workplace Learnings“. Und damit ist das informelle Lernen in dieser Konfiguration auch problemlos möglich.
In dieser fast schon idealtypischen Umgebung bewegt sich übrigens auch das so gehypte 70:20:10-Modell! (vgl. eLearning Journal Jahrbuch 2017: Das 70:20:10-Lernmodell. Ein Modell mit und für die Zukunft?)
Und nun schauen wir einmal auf gewerbliche Arbeitsplätze, die „blue collar Workers“, egal, ob in der Industrie, im Handwerk oder im Einzelhandel:
- In der Regel haben die Mitarbeiter keinen persönlichen PC.
- Vielmehr werden PCs häufig von mehreren Personen genutzt und haben eventuell keinen oder nur einen eingeschränkten Internetzugang.
- Es werden Lernstationen angeboten. In Einzelfällen gibt es Tablets, die vom Arbeitgeber temporär bereitgestellt bzw. ausgeliehen werden.
- Selten haben die Mitarbeiter persönliche betriebliche E-Mail-Adressen.
- Die Mitarbeiter sind in getaktete Prozesse (Fließband, vorgegebene Arbeits- bzw. Richtwerte) oder intensiven Kundenverkehr eingebunden. Ein Lernen zwischendurch ist selten möglich und stellt auch, so meine persönliche Erfahrung im Vertrieb, eine Hürde dar: Es kann ja jederzeit ein Kunde hereinkommen.
- Die gelebte Lernkultur unterstützt nicht das eigenverantwortliche Lernen: „Hast Du nichts Besseres zu tun als zu Lernen?“
Das hat in meinen Augen überhaupt nichts mit Workplace Learning zu tun, dennoch werden wir Lösungen anbieten müssen, wie „am Arbeitsplatz gelernt werden kann!“
These 4:
Informell erworbenes Wissen wird formalisiert.
Zunächst zur Erläuterung: Darunter verstehe ich, dass außerhalb formaler Strukturen (z.B. Weiterbildungsangebote) erworbene Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen anerkannt werden können, wenn diese definierten qualitativen, quantitativen und formalen Anforderungen genügen. Dazu gehören z.B. im Minimum eine Erfassung und ggf. (spätere) Bewertung und Zertifizierung der Aktivitäten.
Der Grund für diese These liegt darin, dass die Reichweite von Wissen durch die elektronischen asynchronen Methoden deutlich größer geworden ist.
Auf der einen Seite ist dieses Wissen nun auch außerhalb von formalen Angeboten verfügbar und oft auch zugänglich, z.B. als E-Learning oder als Aufzeichnungen von Webinaren. Und auf der anderen Seite haben diese Methoden eine Demokratisierung von Wissen bewirkt, das vorher nur „internen“ Experten vorbehalten war.
Dabei denke ich an betriebliche Angebote, aber z.B. auch an die verschiedenen „Expertenforen“ im Internet oder die YouTube-Video-Tutorials, in denen vielfältiges Wissen und Erfahrungen bereitgestellt und ausgetauscht wird, vom Automobil, über Traktoren, Garten, Zierfische, … Man muss sich vor Augen führen, dass diese Expertise vorher ausschließlich Mitarbeitern und Experten von z.B. Fachwerkstätten oder -betrieben zugänglich war! Ich werde diesen Aspekt der Demokratisierung auch in der nachfolgenden These noch vertiefen.
Und jetzt möchte ich diese beiden Gedankengänge zusammenführen:
- Es gibt Menschen, die eignen sich auf diese Weise „quasi nebenbei“ ein breites Wissen und eine neue bzw. erweiterte Kompetenz an.
- Dieses tun sie häufig mit einer hohen (intrinsischen) Eigenmotivation und einem ausgeprägten Eigeninteresse.
- Was spricht also dagegen, diese informell erworbenen Kompetenzen durch geeignete Verfahren zu erfassen, bewerten und anzuerkennen …
- … und damit auch zur Weiterentwicklung und Akzeptanz von Berufsbildern beizutragen?
- Diese These muss jedoch in einem größeren Kontext gesehen werden, da in die Aus- und Weiterbildungsstrukturen eingegriffen wird: Welchen Anforderungen genügen die Lerninhalte? Wie und gegen welchen Maßstab werden diese informell erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen geprüft? Wer prüft? …
Aber welchen Beitrag hat hier ein LMS?
Ich sehe verschiedene Aspekte, die durch die Technologie und vor allem die geschaffenen Strukturen und Angebote diese These Wirklichkeit werden lassen können. Dazu gehören:
- Niedrige formale Zugangsschwellen; wie z.B. „User-IDs für alle Mitarbeiter“, eine breite Reichweite der Angebote, …
- Einen Katalogbereich, der auch vor dem LogIn eines Interessenten umfangreiche Informationen liefert (soweit vom Inhaltsanbieter gewünscht). Mit anderen Worten: Ich muss mich als Interessent nicht erst als User „Gast“ mit dem Passwort „Gast“ anmelden, um etwas zu sehen!
- Unterstützung von Informations- und Vermarktungsaktivitäten: Newsletter, News-Ticker, Messenger, Produktempfehlungen, …
- Attraktive Lerninhalte
- Attraktive Systeme: modernes Design bzw. Look & Feel, intuitiv bedienbar, vielfältiges Angebot, funktionierende Suchalgorithmen, Empfehlungen, Previews, …
- Unterstützung einer offenen Lernkultur, mit z.B. Selbstbuchungsprozessen, Förderung und Anerkennung von Selbstlernen, …
These 5:
Die Demokratisierung von Wissen in elektronischer Form wird weiterhin zunehmen. Jeder kann sein Wissen und seine Erfahrung teilen.
These 6:
Lernen wird aus der noch heute oft geprägten Individualsituation in eine sozialisierte Form übergeben: teilen, erklären, diskutieren, verteidigen, …
Auch diese beiden in meinen Augen zusammenhängenden Thesen möchte ich „in eins ausführen“. Unter „Demokratisierung von Wissen“ verstehe ich zunächst, dass Personen ihren Kenntnisstand dokumentieren und anderen bereitstellen bzw. mit ihnen teilen (sogenannter User-generated Content). Bei „dokumentieren“ denkt man natürlich an Texte, wie es heute schon in Foren üblicherweise getan wird. Durch die Anreicherung der Texte mit Bildern können Zusammenhänge visualisiert werden. Das funktioniert, wird genutzt und bietet auch eine Menge Vorteile, wie z.B. für die Suche und das Auffinden relevanter Informationen im jeweiligen Text. Meine persönliche Erfahrung ist jedoch, dass das Schreiben für einzelne Experten eine Hürde darstellen kann, die nicht immer genommen wird. In der Folge bleibt vieles undokumentiert.
Videos bzw. Video-Tutorials haben den Vorteil, dass die notwendige Kameratechnik in der Regel in hoher Qualität verfügbar ist (Smartphones). Auch ist der Aufwand und die Hemmschwelle niedriger, schaut man sich einschlägige Videokanäle an, die auf fast jede Frage eine (manchmal) pragmatische, aber oft auch hochwertig dargestellte Antwort liefern. Allerdings ist aktuell die Suchen & Finden-Qualität ausschließlich von der Verschlagwortung bzw. den Metadaten abhängig, mit denen betreffende Angebote hinterlegt werden.
Häufig ergeben sich aus den geteilten Informationen interessante Diskussionen, von denen alle Leser und Teilnehmer profitieren. Durch diese selbstgesteuerte Auseinandersetzung, ich würde sie fast schon Qualitätsprüfung nennen, wird Wissen bei allen Beteiligten gefestigt. Die Nachhaltigkeit erhöht sich.
Aber, und dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen, bieten diese Medien oft nur einen „how-to“ Lösungsansatz, statt einem „why is it“-Verständnis. Wie bereits weiter oben ausgeführt, leiden auch hier die Grundlagenkenntnisse, die in vielen Fällen oftmals notwendig sind!
Aus den genannten Optionen und Chancen resultieren auch Risiken, für die ich sensibilisieren möchte:
- Nicht jede dargestellte Lösung entspricht dem notwendigen Anspruch eines Unternehmens (Qualität, Garantie- und Kulanzansprüche, Produkthaftung, …). Eine zeitnahe Moderation und ggf. Korrektur von User-generated Content ist im Unternehmenskontext notwendig.
- Im Unternehmensumfeld erstellte und bereitgestellte Video-Tutorials müssen einer definierten Qualität genügen: Inhalt, Ablauf/Struktur, Anmutung/Auflösung, Verschlagwortung, … Entsprechende Standards sind zu definieren und einzuführen. Ich sehe sonst das Risiko, dass sie als „schlecht“ wahrgenommen werden und in der Akzeptanz leiden bzw. gar nicht erst als vertrauenswürdig eingestuft werden.
Und das LMS?
- Es sollte diese Form eines Forums bzw. der Video-Tutorials unterstützen. Der Unterschied wird aber darin liegen, dass die Tutorials, die heute wie klassische Angebote bzw. Kurse behandelt und administriert werden, einfacher zu integrieren sind.
- Die Administration (einstellen, bedaten, veröffentlichen) von User-generated Content bzw. Teile davon wäre insoweit zu dezentralisieren, dass der Ersteller einen Teil selbst erledigt und für ihn sehr niedrige Hürden und Aufwände entstehen.
- Prozessual sollten flexible Workflows mit geringen Durchlaufzeiten unterstützt werden, um bei Einstellung von User-generated Content die unternehmensspezifische Qualität sicherzustellen: Prüfung, Freigabe, Veröffentlichung und ggf. Einzug/Sperrung.
- Die einfachste Anforderung: Die Suchfunktion sollte, neben den klassischen Angeboten, auch über die Forenbeiträge laufen.
- Die weitergehende Forderung: Die Suchfunktion sollte Ergebnisse nach Relevanzen sortieren und anzeigen, so dass ein schnelles Auffinden der gewünschten Inhalte und Informationen gewährleistet ist.
- Unterstützung von persönlichen Lesezeichen mit Kommentarfunktion auf Angebots- („Kurse“) und auch Inhaltsebene (Seiten oder auch Time-Stamps in Videos)
- Kommentarfunktionen in pdf-Dokumenten
Ich sehe die besondere Herausforderung in einer Vernetzung unterschiedlicher Funktionen/Apps, Formate, Rollen, Bedürfnisse, Prozesse und Systeme, um diese These Realität werden zu lassen.
These 7:
Die erlebte Beschleunigung in der Wissensvermehrung der vergangenen Jahre wird auch weiterhin erhalten bleiben.
Für dieses Phänomen bin ich an einigen Stellen auch schon über die Bezeichnung der Wissens- bzw. Informationsexplosion gestolpert. Dabei bezieht man sich in diesem Verständnis eher auf die Menge des zunehmenden Wissens bzw. der zunehmenden Informationen. Der Erkenntnisgewinn, ich würde diesen auch als „Qualität“ bezeichnen, ist, so mein Eindruck, weniger Bestandteil der Betrachtungen gewesen.
Im Grunde ist damit der Umstand beschrieben, dass das verfügbare Weltwissen, also das einem Individuum verfügbare allgemeine Wissen zunimmt. Ich erinnere mich, an einigen Stellen von einer Verdopplung alle rd. 15 Jahren und auch in 7 – 10 Jahren gelesen zu haben. Auch eine Aussage zu einem exponentiellen Anstieg ist mir noch von irgendwo her in Erinnerung. Aber eigentlich ist es egal, wie oft und in welchem Zeitraum! Mein, sicherlich nicht einzigartiger subjektiver Eindruck einer wachsenden Komplexität (So viele Details!), tw. gepaart mit einer Überforderung (Was ist richtig und wichtig?) von immer mehr verfügbaren Wissen und Erfahrungen scheint zu stimmen!
Das zieht einige Konsequenzen nach sich:
- Man kann nicht mehr alles wissen (und können), das Universalgenie bzw. der Universalgelehrte, wie z.B. ein Leonardo da Vinci, wird zur seltenen Spezies.
- Der Spezialist kann sein Metier mittelfristig nur noch beherrschen, wenn er konsequent „am Ball bleibt“.
- Welches „Minimum“ an Allgemeinwissen und auch -bildung sollte man sich aus dieser ansteigenden Menge noch aneignen und pflegen? Oder reicht das „gewusst, wo?“
… und resultierende Herausforderungen:
- Welche Quellen sind relevant und vertrauenswürdig?
- Wie generiere ich aus den vielen zur Verfügung stehenden Informationen konkretes, brauchbares und belastbares Wissen?
- Wie strukturiere ich mich, dass mir die einzelnen Informationen später wieder zur Verfügung stehen?
- Die resultierenden Anforderungen an ein LMS werde ich zusammen mit der These 8 bewerten.
These 8:
Lerninhalte werden dynamischer sein müssen, um dem weiter zunehmenden Erkenntnisgewinn (Wissensvermehrung) in Inhalten, Bereitstellung und Erwartungen des Lerners gerecht zu werden.
Lerninhalte werden sich an die Dynamik der Wissensvermehrung anpassen (müssen). Ansonsten besteht das Risiko, dass eine Investitionssicherheit für erzeugte Lerninhalte nicht mehr gegeben ist. So ist, als Beispiel, das 45-minütige Grundlagen-WBT evtl. die falsche Entscheidung bzw. Investition, wenn zu erwarten ist, dass relevante neue Erkenntnisse kommen werden oder sich recht schnell verändern.
Meinen Kunden empfehle ich immer, die Lerninhalte zu planen, um die Bedürfnisse der Lerner, aber auch die wirtschaftlichen Interessen und Rahmenbedingungen zu befriedigen. Dabei sehe ich ein Zusammenspiel aus Gültigkeit, ich nenne diese auch immer gerne „Halbwertszeit des Lerninhalts“, Verfügbarkeit, Methode/Qualität und Ressourcen (Termine, Budget, Expertise).
Bei der Gültigkeit (der Lernziele bzw. Inhalte) gehe ich dabei in der Regel von 3 Stufen aus: kurz, mittel und lang. Die Definition des Zeitraums der Stufen in Monaten oder Jahren ist kundenspezifisch zu treffen. Daraus resultiert die Methodenwahl wie ein Lerninhalt bereitgestellt wird, z.B. als (einfach und schnell zu erzeugende/s) Präsenzschulung, Video-Tutorial, als (aufwendigeres) WBT, …
An dieser Stelle möchte ich Ihnen auch einen weitergehenden Artikel empfehlen: Von der Herausforderung, passende Weiterbildungsmaßnahmen zu erstellen (eLearning Journal Praxisratgeber 2018/2019, eLearning erfolgreich konzipieren).
Was bedeutet die Wissensvermehrung und die resultierende Dynamik für ein LMS?
- Wie bereits in den Thesen 5 und 6 formuliert, sehe ich die Relevanz von Suchergebnissen im Schulungsangebot als besondere Herausforderung. Der Lerner soll nicht nur einfach Ergebnisse sehen, sondern diese auch bezüglich seines eigentlichen Bedarfs sinnvoll dargestellt bekommen – ohne dass er selbst jedes Ergebnis anklicken bzw. öffnen muss.Natürlich landen wir, das ist mir bewusst, schnell in der Diskussion, wie eine Relevanz bewertet werden kann. Aber wie schafft das Google? Wie schaffen das die „großen Internet-Shops“? Auch erwarte ich in den kommenden Jahren deutliche Fortschritte in dem Komplex der KI (Künstlichen Intelligenz), die auch für Lerner von Nutzen sein können bzw. sollten.
- Einen weiteren Bedarf sehe ich darin, Lerner über Neuerungen aktiv zu informieren; z.B. wenn ein Lerner den Inhalt A bearbeitet hat, ist der Lerninhalt B für ihn besonders relevant, um mit seinem Wissen „á jour“ zu bleiben. Dabei ist aus der (äußeren) Perspektive des Lerners die Kommunikation mit ihm intelligent zu lösen, ohne penetrant zu wirken. Und aus der inneren Sicht der Administration sind effiziente und effektive Tools notwendig, die Verbindungen und Abhängigkeiten von Lerninhalten bzw. Angeboten untereinander darzustellen.
- Das hat natürlich auch einen Einfluss auf Bildungshistorien, die sich verändern: Das, was in der Vergangenheit bearbeitet wurde, kann heute (oder morgen) nicht mehr gültig sein. Ich würde erwarten, dass sich diese Dynamik auch in den in meinen Augen heute recht statischen Bildungshistorien widerspiegelt!
- Betrachten wir abschließend die These 4 („informelles Lernen wird formalisiert“) unter dem Aspekt der Dynamisierung. Wie die Bildungshistorien werden auch die informell erworben und dann formalisierten Kenntnisse und Kompetenzen dieser Dynamik unterliegen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Strukturen zwischen dem LMS und den Verfahren zur Formalisierung geschaffen werden, wie auch immer diese Strukturen bzw. Verknüpfungen aussehen werden.
- Auch Lernangebote, wie z.B. Kurse, werden dynamischer. Daraus resultiert in meinen Augen die Anforderung, dass die Anlage von Kursen bzw. Angebotsstrukturen diese Dynamik für den Lerner und vor allem für den Administrator abbilden muss. Dabei denke ich an: Anlegen und Pflegen von Kursen, Informieren des Lerners, Nachvollziehbarkeit bzw. Rückverfolgbarkeit von Aktivitäten, …
Und das bringt uns zu meiner (zunächst) letzten These:
Expertenstimme
Traditionelle LMS haben im digitalen Zeitalter ausgedient
Der digitale Wandel revolutioniert nicht nur Prozesse und Produktionsumgebungen. Er verändert auch das Lernverhalten der Menschen und fordert neue Formen der Wissensvermittlung. Herkömmliche LMS sind Plattformen für Schulungsinhalte, angereichert um organisatorische Funktionen. Die Wissensvermittlung beschränkt sich im Wesentlichen auf traditionelle Lernsituationen. Gelernt wird nicht, was gerade an Wissen benötigt wird, sondern was auf dem Lehrplan steht.
Diese Starrheit hat in der heutigen agilen Welt nichts mehr verloren. Sie entspricht weder den technologischen Rahmenbedingungen noch den wirtschaftlichen Anforderungen – und schon gar nicht dem Lernverhalten des modernen Menschen. Wissensvermittlung muss sich am Bedarf orientieren und nah an der Anwendungspraxis sein. Je besser sie die Wahrnehmungsmuster der Menschen bedient, desto eher erreicht sie ihr Ziel, Wissen nachhaltig zu vermitteln.
Eine zeitgemäße Lösung wie etwa der Knowledge.Hub von Core Learning Production leistet idealerweise genau das. Sie verzichtet auf Verwaltungsfunktionen wie die Planung von Veranstaltungen, die Abrechnung von Schulungen und Ähnliches. Stattdessen transportiert sie Informationen situationsbezogen und interaktiv – über die digitalen Endgeräte, die aktuell verfügbar sind. Da meist noch keine VR-Brille zur Verfügung steht, müssen Smartphone und Tablet reichen. Das muss im Büro ebenso funktionieren wie in der Freizeit, auf Montage oder an der Fertigungsstraße. Der Nutzer entscheidet, wann und wo er Wissen abrufen will. Und selbstverständlich muss ein Mitarbeiter jederzeit auf unternehmensspezifische Inhalte zugreifen können.
Idealerweise erkennt das System die Situation, in der sich der Nutzer befindet, und bietet ihm die Informationen an, die er am wahrscheinlichsten benötigt. Die Software hat dabei Zugriff auf unterschiedliche, dezentrale Quellen, bereitet die Informationen konsolidiert auf und stellt sie auf einer einheitlichen Oberfläche dar. Auf diese Weise lässt sich Wissen adäquat, den heutigen Anforderungen entsprechend vermitteln.
Michael Sittek, CEO der Core Learning Production GmbH
These 9:
Die Struktur von Lernangeboten wird weniger linear sein.
Lassen Sie uns an dieser Stelle grob zusammenfassen: Lerninhalte sollen bedarfsgerechnet bereitgestellt und sie sollen vom Lerner schnell gefunden und inhaltlich erfasst werden (Thesen 1 und 2). Außerdem sollen diese Inhalte geeignet sind, das Wissen und die Kompetenzen des Lerners auch formal weiterzuentwickeln (These 4) und dennoch „Freude bereiten“, da sie „gut gemacht sind“ (These 3). Dabei unterliegen sie inhaltlich einer Dynamik (These 8).
Das ist in meinen Augen mit den heutigen Strukturen von Lernangeboten nicht mehr darstellbar. In der Regel sind die heutigen Angebote über weitere Strecken linear aufgebaut, d.h. sie folgen einer definierten Sequenz:
- Die Präsenzveranstaltung, die um 8 Uhr beginnt und um 17 Uhr endet. Dabei folgt der Ablauf einer definierten Choreografie bezüglich zu erreichender Lernziele, eingesetzter Methoden und Interaktionen.
- Das WBT von 30 Minuten Bearbeitungsdauer, das sich linear an den Kapiteln abarbeitet. Und anschließend ist der verbindliche Abschlusstest mit mindestens 75% oder 80% richtigen Antworten zu bestehen, …
- Im modernen Blended Learning-Ansatz wird dann noch ein Webinar zwischen die oben skizzierte Präsenzveranstaltung und das WBT als Vortraining platziert.
Das ist alles sauber geplant, sehr stringent und auf die Lernziele optimiert! Wären da nicht diese störenden Elemente:
- Wie berücksichtigt ein solches Angebot die unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen eines Lerners?
- Bedarfsgerechtes Wissen und lange Bearbeitungsdauern bzw. „Monolithen“ widersprechen sich. Sie werden die betreffende Passage garantiert nicht auf die Schnelle finden!
- SCORM liefert zwar eine Lernstandsspeicherung, aber wie können daraus Empfehlungen generiert werden?
- Nicht jeder (Lern-) Inhalt kann zwingend aktuell im LMS vorgehalten werden. Ich denke da an die bereits oben erwähnten Drehmoment-Werte. Das würde zu einer redundanten Datenhaltung führen.
Den einen „Hebel“ sehe ich zunächst darin, kleinere „modulare“ Lerninhalte zu erstellen und anzubieten. Diese können dann bei Bedarf zu linearen, aber aufgrund der kleinteiligeren Struktur auch flexibleren Kursen kombiniert bzw. einzeln bearbeitet werden. Auch sollten diese Module jeweils einzeln in die Lernhistorie, oder, der geneigte Leser ahnt, was jetzt kommt, in den Learning Record Store (LRS) einfließen. Das ein solcher Ansatz selbst in Präsenzveranstaltungen gut funktionieren kann, zeigen sogenannte Breakout-Sessions, in denen Teilnehmer Themen gemäß ihren Präferenzen besuchen können.
Was hat es mit dem Learning Record Store auf sich? Der LRS steht in Verbindung mit der xAPI Schnittstelle (experience Application Programming Interface), die als Nachfolger des SCORM-Standards gesehen werden kann. Neben der bekannten Interaktion zwischen Lerninhalt und LMS basiert diese Schnittstelle vor allem auf einer erweiterten Bereitstellung von Lernaktivitäten und Lernerfahrungen der Teilnehmer. Diese müssen nicht zwingend in einem LMS gesammelt werden, sie können auch aus anderen Quellen stammen: Apps, klassischen PC-Anwendungen, sozialen Netzwerken, … Eine besondere Eigenheit des LRS ist, dass dieser in einer separaten Datenbank vorgehalten werden kann, also nicht zwingend Bestandteil des Learning Management Systems sein muss. Damit gewinnt man Unabhängigkeit, Flexibilität und Vielfalt!
Um von diesen erweiterten Chancen zu profitieren, muss ein LMS die Schnittstelle xAPI „verstehen“ bzw. bedienen können. Es sind aber vor allem entsprechende Lerninhalte bereitzustellen bzw. zuzulassen, die Lernerfahrungen in den LRS ablegen können.
Wie sieht das Profil des LMS der kommenden Jahre aus?
Widmen wir uns zunächst der (heutigen) klassischen Rolle eines LMS. Das Learning Management System strukturiert den Lernprozess. Dabei kann es, je nach Funktionsumfang des LMS, von der Userverwaltung zur Lernhistorie, vom Angebot über die Buchung bis zur Bereitstellung elektronischer Lerninhalte reichen. Es soll (für den Lerner und den Administrator) einfach zu bedienen, (für die IT) technisch up-to-date sein und Investitionssicherheit bieten und die Datenschutzanforderungen erfüllen. Je nach Funktionsumfang erfüllt ein LMS einige, oder alle der folgenden Funktionen:
- Userverwaltung
- Schulungsangebot/Katalogfunktion
- Contentplattform
- Kursverwaltung
- Veranstaltungsmanagement
- Bildungshistorie
- Reporting
- Fakturierung
Dabei ist nicht jede Funktion zwingend für jeden Kundenbedarf bzw. wird sie von jedem LMS bereitgestellt. Die nachfolgende Grafik ist dem einen oder anderen Leser vielleicht schon bekannt (u.a. LMS-Kaufberater, eLearning Journal Sonderheft Praxisratgeber & Markt Lernmanagementsysteme, 2014).
Der heutige Mehrwert eines LMS liegt in der Integration dieser Funktionen in einem System und der Verwaltung der entstehenden Daten in einer Datenbank. Auch resultieren für den Lerner eine einheitliche Oberfläche und Bedienung und für die Administratoren stringente Prozesse und Datenhaltung. Dieses „Management des Lernens“ hat bisher durchaus Sinn gemacht, da das Lernen als „separate Aktion bzw. Handlung“ gehandhabt worden ist: die Weiterbildung, der Trainingsbereich, die Personalentwicklung „hat eingeladen!“ bzw. „man hat sich dort angemeldet“.
Mit den sich verändernden Rahmenbedingungen und Anforderungen hat dieses Modell in meinen Augen jedoch ausgedient. Das Lernen findet nicht mehr ausschließlich separat statt, vielmehr ist es, wie mehrfach ausgeführt, an verschiedenen Stellen mit dem Arbeitsplatz verbunden. Und am Arbeitsplatz dominieren zunächst einmal andere Informationen, die zur Arbeitsbewältigung notwendig sind. Eine (heute noch sehr oft praktizierte) getrennte Erstellung und Datenhaltung von zur Arbeitsausführung relevanten Inhalten macht da keinen Sinn. Auch ist für den Mitarbeiter ein Wechsel zwischen arbeitsrelevanten Inhalten, wie sie z.B. das Intranet oder ERP-System bereitstellt und dem LMS für die „Lerninhalte“ nicht sinnvoll. Vielmehr nutzt er einen Zugang mit einer konsistenten Oberfläche und Bedienung.
LMS wie wir sie heute typischerweise kennen, eignen sich in dieser Form eigentlich dann nur noch für klassische Lehr- und Lernbetriebe, wie z.B. Akademien. Diese haben den Bedarf, ihre Kunden bzw. Lerner über den kompletten Prozess zu begleiten: von der Identifikation passender Angebote (Katalog) über die Buchung, die Bezahlung (soweit relevant) bis zur Ausführung und Nachbearbeitung (Zertifikate/Nachweise, Bildungshistorien, …); egal ob als Präsenzveranstaltung oder als asynchrones online-Angebot. Allerdings stoßen diese LMS im Akademiebetrieb dann an ihre Grenzen, wenn die Akademie als ausgelagerter Dienstleister Funktionen eines Unternehmens bzw. Auftraggebers übernimmt. Diese Konstellationen finden sich mittlerweile recht häufig. Die Herausforderung besteht dann darin, die verschiedenen Prozesse und Abläufe so zu verschmelzen, dass sie für den Teilnehmer/Lerner als Bestandteil seines Unternehmens wahrgenommen wird. Ein weiterer passender Anwendungsfall sind kleine und mittelgroße Unternehmen, die mit einer zentralen LMS-Lösung alle (oder einen großen Teil ihrer) Prozesse ohne umfangreiche IT-Integrationsaufwendungen realisieren möchten.
Abschließend wage ich einen Ausblick auf das zukünftige LMS, das ich schon jetzt lieber als Informations- und Bildungslandschaft umschreiben möchte:
- Am Arbeitsplatz wird es nicht mehr DAS Learning Management System geben.
- Vielmehr werden einzelne Funktionen aus dem heutigen LMS-Portfolio an andere Systeme angedockt: das Angebot/der Katalog mit eigener oder angedockter Suchmaschine, die Webinar-Integration, ein Forum, das einen qualifizierte Dialog unterstützt; die Veranstaltungsadministration mit Buchung; die Lernhistorie; eine User-generated Content-App mit integriertem Upload; …
- Dadurch erhöht sich die Integration von (Lern-) Inhalten in die normale Arbeitsumgebung.
- Es wird eine hohe Vernetzung mit verschiedenen Inhalten in anderen Systemen bzw. Strukturen haben.
- Das situative Suchen und (vor allem) Finden wird zu einer zentralen Funktion.
- Ich erwarte, dass sich xAPI innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre von den heutigen Pilotanwendungen in einen allgemein etablierten Standard entwickeln wird. Sicherlich wird dieser Trend wieder von den größeren Unternehmen ausgehen. Das wird zunächst neben SCORM stattfinden, um es dann zu ersetzen.
- Die Geschwindigkeit wird dabei maßgeblich von der Einführung der Learning Record Stores beeinflusst, was einen Eingriff in die aktuelle LMS-Strategie und bestehende Infrastruktur bedeutet.
- Der Learning Record Store wird Ausgangspunkt für Historien und Maßnahmen (Talentmanagement) sein.
- Dabei werden nicht nur die Bearbeitung von Lerninhalten erfasst, sondern auch andere Quellen.
Und ich glaube, dass es Anbieter klassischer LMS zukünftig schwerer haben werden:
- Die Bedeutung des LMS am Arbeitsplatz wird abnehmen.
- Die heutigen (kommerziellen) Systeme sind funktional zwar noch nicht ausgereizt, aber stark technologiegetrieben und inhaltlich zu spezifisch und, in der Summe, sehr teuer geworden.
- Die ERP-Systeme werden ihre führende Position in der Durchdringung am Arbeitsplatz ausbauen.
- Die heutige Parallelwelt von LMS und anderen arbeitsrelevanten Systemen wird schrumpfen und LMS-Funktionen (s.o.) werden, z.B. als Apps, in eine übergeordnete Struktur, die Informations- und Bildungslandschaft, integriert.
- Der Markt in den großen und größeren Unternehmen ist gesättigt. Es werden im LMS-Bereich, wenn überhaupt noch, Release-Wechsel oder Substitutionen anstatt Neuanschaffungen vorgenommen.
- Vielmehr rechne ich damit, dass im Rahmen der Diskussion um Industrie 4.0 und Digitalisierung von Prozessen auch die bestehenden Systeme hinterfragt werden.
- Für kleinere und kleine Unternehmen ist ein Großteil der heutigen LMS preislich nicht darstellbar bzw. schlichtweg zu teuer! Diese werden sich im Open Source-Bereich umsehen oder auf funktionale und einfach strukturierte Web-/ Cloud-Lösungen setzen.
Der Autor
Matthias Brockerhoff
hat in über 300 Lernprojekten in gut 15 Jahren als Auftraggeber, Auftragnehmer, Projektleiter und Berater Impulse gesetzt und umfangreiche Erfahrungen in unterschiedlichen Branchen und Zielgruppen gesammelt. Seit 2010 begleitet er kleinere und größere Unternehmen, erfolgreich E-, Distance und Blended Learning zu machen.
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